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Big Data „zwischen den Zeilen“ lesen

Zukunftsfähige Wirtschaft braucht linguistische Ansätze. Der Informationsschatz liegt in allen Textdaten. Er muss aber auch gehoben werden.
Simone Burel | 01.07.2019
© Pixabay / Geralt
 
Die Wirtschaftslinguistik dient der Menschheit, indem sie die sprechend-denkenden Menschen aufzeigt als Glieder einer zunächst national-, dann aber auch international geknüpften Kette, und sie erforscht und lehrt die Methoden, mittels derer wir verschiedene Völker aus ihrer Nationalkultur heraus verstehen und würdigen lernen, so schreibt es Ewald E.J. Messing im Jahr 1932.

Seitdem hat sich viel geändert, aber wiederum auch manches nicht: Was tun Menschen ca. 70.000-mal pro Tag? Richtig, Wörter produzieren, die beruflich und privat über kommunikativen Erfolg oder Bruchlandung entscheiden! Bilder werden von uns zwar schneller wahrgenommen, aber umso rascher auch wieder vergessen. In unserer Lebenswelt − nicht nur online − sind wir also permanent von (sprachlichen) Zeichen umgeben: angefangen beim Toilettenschild "Damen" bis hin zum bunten Social-Media-Auftritt. Auch der Online-Bereich wird wesentlich durch nicht-technische Faktoren bestimmt, da es Menschen sind, welche die Kommunikationsströme im Internet verursachen: Themen werden eingeführt, diskutiert, bewertet, neue Begriffe erfunden. Es ist letztlich die Macht der Wörter und deren anhaltende Erinnerung, mit der sich die größte Wirkung bei Zielgruppen erzielen lässt. Diese Sprachmacht wird aber in der Regel unterschätzt.

Weil wir alle jeden Tag Sprache verwenden, meinen wir, automatisch Sprachexperten zu sein


Diese vorschnelle Annahme ist in den meisten Unternehmen weiterhin vorzufinden. Allerdings bedürfen Sprache und Kommunikation jedoch spezieller Betreuung und Expertise. "Geisteswissenschaftler, und unter ihnen besonders Linguisten, sind hierfür Experten. Sie können entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten in Unternehmen identifizieren, sprachlich anreichern und auswerten", so Dr. Clara Herdeanu, Referentin für Unternehmenskommunikation bei einem Hidden Champion im Bereich Elektromotoren. Die promovierte Linguistin weist darauf hin, dass alle Menschen zwar Sprache nutzen, die wenigsten aber über Sprache ernsthaft reflektieren. Sprachverarbeitung laufe zum großen Teil unbewusst ab; daraus ergebe sich die Relevanz von Linguisten in allen Unternehmensbereichen, die stark davon betroffen sind, etwa Kommunikation, Marketing oder HR, weiß Herdeanu.

Es scheint somit verwunderlich, dass linguistische Methoden die Unternehmen nicht bereits durchdrungen haben, fernab von Manfred Bruhns oder Franz-Rudolph Eschs Konzept der Integrierten Kommunikation (vgl. etwa Bruhn 2014) sowie Jörg Pfannenbergs, Manfred Piwingers oder Ansgar Zerfass' Ansätze zum Communication-Controlling (vgl. etwa Piwinger/Zerfass 2014), wohl gemerkt, keine genuin linguistischen Ansätze. Auch viele Analyse-Softwares, die zur Ermittlung von Keywords/Topics, Social Media Monitoring oder zur Textverständlichkeit bei großen Textmengen eingesetzt werden, operieren auf Basis einer heiklen Grundannahme: Sprachdaten sind keine eindeutigen Zahlen und können somit nicht einfach in solche umgerechnet werden, da sie semantische Mehrinformationen (Mitbedeutungen, Kontextwissen etc.) enthalten. Sprache richtet sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, weshalb sie wiederum schwer mit konventionellen, numerisch ausgerichteten Methoden messbar ist und sich schlecht in rational-ökonomische Denkstrukturen einfügt. Es gibt allerdings Möglichkeiten, relativ schnell und valide zu Ergebnissen bezüglich des Kommunikationserfolgs zu kommen: Stichwort Big Data.

Big Data − Stau auf der Datenautobahn


Unternehmen und Gesellschaft erzeugen jeden Tag aufs Neue riesige Mengen an Sprach- und Textdaten. Social Media, Blogs, Freitextfelder auf Homepages oder Bewertungs-/User-Foren sind entsprechende Datenquellen. Nur rund ein Drittel der großen Konzerne und Mittelständler gibt an, ihre "Big Data" jedoch systematisch zu analysieren. Man redet gerne über Daten, genutzt werden sie jedoch nicht, so titelt die FAZ am 12.01.2016 und bezieht sich damit auf den Big Data Report der Hochschule Reutlingen im Auftrag von T-Systems Multimedia Solutions. Befragt wurden insgesamt 108 große und mittelständische Unternehmen in Deutschland aus 16 Branchen. Viele Kommunikations- oder Marketingverantwortliche, gerade von Mittelständlern, verkennen die Relevanz dieser Daten für ihre Marketing- und Kommunikationsstrategie, trauen sich keine Bewertung dieser zu oder erachten sie im stressigen Tagesgeschäft als nicht relevant. Dadurch gehen Unternehmen jedoch genau diejenigen Informationen verloren, nach denen alle suchen: Wie kamen entsprechende Kampagnen an? Was denken Zielgruppen über das Unternehmen oder dessen Produkte/Dienstleistungen (Image)? Was wird gut, was wird schlecht bewertet (sogenannte Sentiments). Vor allem aber: Was sind die wirklichen Wünsche und Gedanken der Zielgruppen? Dieses realistische Kunden-, aber auch Mitarbeiterfeedback (z.B. zur Mitarbeiterzufriedenheit) ist inzwischen von höchster Bedeutung und kommt zunehmend in großen Mengen aus dem Online-Bereich. Warum also die Daten, die sowieso schon produziert wurden, nicht auch gewinnbringend nutzen?

Trend Text Mining − der Informationsschatz liegt in allen Textdaten


Aus dem anglophonen Raum schwappt seit wenigen Jahren der Trend des Text Mining auch zu uns hinüber. Das Wort Mining ist übrigens eine Metapher aus dem Bergbau: unstrukturiertes Rohmaterial wird geschürft und bis zum kostbaren Edelmetall (= das (Mehr-)Wissen) freigesetzt. Einige Dax-30-Unternehmen beschäftigen sich bereits in Pilotprojekten mit der Frage, wie sie solche Methoden integrieren können. Text Mining operiert mit computerlinguistischen und statistischen Analyseverfahren zur Entdeckung von verborgenen Bedeutungen in großen Textmengen, die gar nicht oder nur sehr schwach thematisch strukturiert sind. Solche findet man etwa bei offenen Fragen: Wo können wir uns verbessern? Haben Sie Anregungen für uns? Wie zufrieden sind Sie mit uns? Was machen unsere Wettbewerber? Wie sehen unsere Märkte aus? Beim Text Mining werden dabei implizite Informationen explizit gemacht, d.h. bewertungsindizierende Äußerungen oder Argumente, und somit neues und potenziell nützliches Wissen gewonnen.

Rein manuelle Textauswertung kostet unnötig Geld und Fehler


Wie viele mittelständische Unternehmen werten Umfragen zur Kunden- oder Mitarbeiterzufriedenheit, sofern sie solche überhaupt durchführen, noch manuell aus? Viele! Dies sorgt nicht nur für hohen Aufwand, die Fehlerquote erhöht sich zudem durch die nicht-linguistische Schulung der Mitarbeiter. Es werden außerdem meist nur vordefinierte Kategorien (z.B. thematisches Clustering) genutzt, keine ergebnisoffenen Methoden angewandt und die Wortebene nicht mit der Prominenz behandelt, die ihr eigentlich zustünde. Beispielsweise geben nicht nur Autosemantika (Substantive, Verben und Adjektive) Aufschlüsse über Themen (z.B. Liefertreue oder vertrauen); kleine (Negations-)Partikeln und Distanzmarker wie eigentlich, selbstverständlich oder kein verweisen auf als gemeinsam unterstelltes Wissen, auf Ziele oder Normensysteme, Nähe und Distanz der Zielgruppen (vgl. Ballweg 2009). Alle Aussagen, die bisher nicht in dieser Form strukturiert fachlich ausgewertet wurden, sind ungenutzte Kommunikationspotentiale, über die wertvolle Informationen einfach unter den Tisch fallen.

Maschinelle Auswertung ohne fachliche Interpretation bringt wenig Mehrwert


Unternehmen betreiben zur Analyse ihrer Mitarbeiter- oder Kundenwünsche mitunter viel Aufwand, z.B. durch Fokusgruppen oder Marktforschung. Wird Text Mining rudimentär angewandt, dann meist nur rein maschinell oder von relativen Laien, d.h. von Mitarbeitern ohne sprachwissenschaftliche Kompetenz. Ein reines (maschinelles) Datenclustering, beispielsweise eine Wort-/Themenliste, ein Kategoriensystem oder ein maschinell erstellter Report für die Social-Media-Analyse ohne solide qualitative Interpretation, nutzt Kommunikation, Marketing oder HR jedoch wenig, da es gerade um das "zwischen den Zeilen" lesen geht, um das Mitgeteilte an Beziehungsinformationen und Emotionen. Nicht-sprachlich Geschulte und reine IT-Produkte können dies derzeit nur unzureichend aufschlüsseln, z.B. was bedeuten die Ergebnisse? Welche Handlungen müssen wir daraus ableiten? Wie kann sprachlich in den Diskurs eingegriffen bzw. auf diesen reagiert werden? Maschinen können inhaltliche Zusammenhänge menschlicher Kommunikation noch nicht hinreichend deuten oder Handlungsentwürfe daraus ableiten. Linguisten schon.

Klassische Marktforschung durch linguistisches Text Mining (Lingumarketing) ergänzen


Qualitativ-hermeneutische linguistische Analysen in Kombination mit semi-automatisierten Tools im Bereich Text Mining machen es möglich, durch Sprachkompetenz einen bisher unbeachteten Informationsschatz zu heben. Unternehmen können dadurch schneller und kosteneffizienter an tieferliegendes Kundenwissen und -verstehen kommen sowie ihre Leistungen durch das ausgewertete Sprachmaterial (sprachlich) anpassen. Lingumarketing beschreibt dabei das Zusammenspiel aus der aktuellen Sprachperformance und darauf abgestimmtem Marketing mittels Kommunikation. Es bedeutet, Zielgruppen wie Kunden oder Mitarbeiter zu sprachlichen Ideengebern in einem Wissenszirkulationsprozess zu machen. Welche Themen oder Wünsche bringen sie etwa in den Diskurs ein? Eine Leistungsanpassung kann somit über tatsächliches Feedback ex post (ohne Simulationen in Fokusgruppen oder Umfragen) vorgenommen werden. Am Ende stehen neue Muster und ein besseres Verständnis von allen, die mit dem Unternehmen kommunizieren. Dieses Verständnis basiert somit auf einer sicheren Datenlage, die mit linguistischer Expertise ausgewertet wurde (vgl. Trevisan/Jakobs 2015).

Zukunftsfähige Wirtschaft braucht Kommunikatoren


Wer unternehmerische Sprache und Kommunikation analysiert und dann aktiv gestaltet (übrigens die Kernaufgabe der traditionellen Linguistik), spart auf jeden Fall Kosten sowie Zeit. Dabei wird Sicherheit in Bezug auf die wirklichen Wünsche der Zielgruppen und deren Aussagewahrscheinlichkeiten gewonnen. Die konkreten Auswirkungen eines solchen Verfahrens auf die Performance von Unternehmen können sich langfristig in verringerten Vertriebskosten, Effizienzsteigerungen in der allgemeinen Korrespondenz, Imageverbesserungen, überzeugenderer Darstellung der Produkte, längerfristige Kundenbindung sowie besserer Kundeninteraktion zeigen. Prof. Dr. Gerlinde Mautner (WU Wien) betonte dies schon im Jahr 2011 in ihrem Aufsatz Sprache, Handel, Sprachhandeln: Zur Bedeutung von Sprache im Management. Kurzfristige Vorteile sind, nach eigenen Pilotstudien (vgl. Burel 2015):

• Qualität/Sicherheit: Real existierende Datenquellen werden genutzt.
• Geschwindigkeit & Kostenreduktion durch semi-automatisierte Verfahren − keine zeitaufwändigen Studien oder Fokusgruppen
• Neues Wissen: Bislang ungenutzte Informationen werden ausgewertet
• Reduktion von Fehlschlüssen durch selektives Auswählen/Lesen
• Auffinden von Wörtern/Wortgruppen, die erfolgsrelevant sind; Eliminierung von Wörtern mit negativem Impact
• Hinweise für Vertrieb/HR/Communications zur Interaktion mit Kunden
• Mögliche kommunikative Reaktion/Leistungsanpassung über tatsächliches kollektives Feedback ex post

Design Thinking − der hermeneutische Zirkel reloaded


Sprache wird auch weiterhin nicht technisch vorhersagbaren Eigengesetzlichkeiten folgen. Statistiken, Metriken und Key Performance Indicators (KPIs) sind zwar teilweise nützlich für die Erfolgskontrolle, aber gute Inhalte und Traffic zu generieren, bleibt ein Experimentierfeld. Maschinen können nicht denken und fühlen − Sprache und Kommunikation sind jedoch unmittelbar mit der menschlichen Kognition und Emotion verknüpft. Das Verhalten der Zielgruppen wird sich niemals gänzlich maschinell erschließen lassen. Das Design-Thinking erobert in dieser Hinsicht gerade den Markt, wodurch das Einfühlen in die Zielgruppen, ein ständiges Hinterfragen und kreative Prototypen propagiert werden, die sich am Kunden testen lassen. Der Zyklus endet dabei nie, sondern beschreibt einen iterativen Prozess und kein stetes Streben von A nach B. Bewährtes wird ständig hinterfragt und neues Wissen erarbeitet. Eine Endlosschleife. Der hermeneutische Zirkel − vom Sprachphilosophen Hans Georg Gadamer stark gemacht − beschäftigte sich bereits 1960 mit diesem Thema: Menschen entwickeln Verständnisentwürfe in Kontakt mit dem Praxisfeld. Das Vorverständnis, welches man von einem Sachverhalt hat, wird durch Kontakt oder neues Wissen (z.B. mit der Zielgruppe oder dem Produkt) erweitert und korrigiert, was zu einem verbesserten Verständnis führt. Mit diesem kann der Verstehensprozess erneut angestoßen werden. Im Prinzip kann dieser Kreislauf endlos wiederholt werden.

Fazit: Wenn Unternehmen schon wüssten, was sie eigentlich schon wissen


Mehr als 80 Prozent der geschäftsrelevanten Informationen eines Unternehmens sind in unstrukturierten Daten verborgen, so die Gesellschaft für Informatik auf Ihrer Homepage. Dieses verborgene Wissen über Kunden, Wettbewerber und Märkte, das schnell verfügbar gemacht werden soll, wird in Verdrängungsmärkten immer wichtiger. Hans-Georg Gadamer hielt Denken und Sprache für untrennbar. Wenn uns die Worte fehlen, ringen wir schmerzlich nach ihnen. Und nicht nach Zahlen! Die Linguistik kann daher die Kommunikation von Unternehmen durch sprachwissenschaftlich fundierte Interventionen definitiv optimieren und aus kommerzieller sowie wissenschaftlicher Sicht für einen enormen Mehrwert sorgen. LU - Linguistische Unternehmenskommunikation liefert als erste linguistische Unternehmensberatung Text-Mining-Services in Kooperation mit der Universität Heidelberg. Weiterhin findet sich Forschung hierzu im Bereich Textlinguistics & Technical Communication an der RWTH Aachen.


Der Beitrag ist auch bei „Pressesprecher - Magazin für Kommunikation“ erschienen. Wir danken für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung.


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Literatur
Ballweg, Joachim (2009): „Modalpartikel“. In: Hoffmann, Ludger (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin. 547–553.
Bruhn, Manfred (2014). Integrierte Unternehmens- und Markenkommunikation. Strategische Planung und operative Umsetzung. 6. Auflage. Stuttgart.
Burel, Simone (2015): Identitätspositionierungen der DAX-30-Unternehmen. Die Sprachliche Konstruktion von Selbstbildern in Repräsentationstexten. Berlin/Boston.
Gesellschaft für Informatik, https://www.gi.de/service/informatiklexikon/detailansicht/article/text-mining.html
Klenner, Manfred (2009): Süsse Beklommenheit und schmerzvolle Ekstase: Automatische Sentimentanalyse in den Werken von Eduard von Keyserling. In: C. Chiarcos (Hrsg.): Von der Form zur Bedeutung: Texte automatisch verarbeiten. 91–97.
Messing, Ewald E.J. (Hrsg.) (1932): Zur Wirtschaftslinguistik. Rotterdam.
Mautner, Gerlinde (2011): „Sprache, Handel, Sprachhandeln: Zur Bedeutung von Sprache im Management“. In: Puck, Jonas F./Leitl, Christoph (Hrsg.): Aussenhandel im Wandel. Festschrift zum 60. Geburtstag von Reinhard Moser. Heidelberg. 3–12.
Piwinger, Manfred/Zerfaß, Ansgar (Hrsg.) (2014): Handbuch Unternehmenskommunikation. Wiesbaden.
Trevisan, Bianka/ Jakobs, Eva-Maria (2015): Linguistisches Text Mining. In: Keller, Bernhard/ Klein, Hans-Werner/ Tuschl, Stefan (Hrsg.): Zukunft der Marktforschung. Entwicklungschancen in Zeiten von Social Media und Big Data. Heidelberg. 167-185