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Muss die Muse küssen? Nimmermehr!

Edgar Allan Poe zeigte sich schon vor mehr als 150 Jahren als analytischer Storytellling-Vordenker.
Harald Kopeter | 26.08.2019
Schriftsteller Edgar Allan Poe © Pixabay / Clker Free Vector Images
 

Der Schreibprozess als Geniestreich, der nur nach dem berühmten Musenkuss vonstatten gehen kann? Mitnichten! Niemand Geringerer als der US-amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809-1845) entzauberte die Entstehung von exzellenten Texten und lieferte damit ein 5-Schritte-Programm für Meisterwerke. Eine klare Message, auf die Zielgruppe zugeschnittene Inhalte, User-optimierte Textlängen … Wer glaubt, die Bausteine effektiver Stories hätte die moderne Marketingwelt entdeckt, liegt falsch. Vor mehr als 150 Jahren vertrat Edgar Allan Poe eine für die damalige Zeit radikale These: Gute Storys sind mit dem Publikum im Kopf geschrieben. In seinem Aufsatz „Die Methode der Komposition“ (The Philosophy of Composition) zeigt Poe einen klaren, analytischen Schreibprozess vor. Damit will er das Geschichtenerzählen nicht nur vereinfachen, sondern auch die emotionale Wirkung auf die Leserschaft maximieren.

Ein Mann klarer Worte – und mit fünf Fragen

Fünf Fragen, simple Parameter, geplante Resultate. Poe dürfte ein Mann klarer Worte gewesen sein. In seinem Aufsatz demystifiziert er Storytelling und dessen Prozess. Während seine Zeitgenossen vorgaben, spontan von der Muse geküsst zu werden, sah Poe das Geschichtenerzählen als machtvolles Werkzeug, das es planbar, effektiv und jederzeit einzusetzen galt. Poe sieht den Schreibprozess als methodisch, analytisch und präzise. Seiner Meinung nach entsteht eine gute Story nicht spontan oder intuitiv. Er vergleicht seine Herangehensweise mit der Lösung eines mathematischen Problems. Andere Autoren arbeiten zwar ähnlich analytisch, so Poe, geben es aber nicht zu, weil sie befürchten, dass damit ihr Ansehen als künstlerisches Genie Schaden nimmt. Nun, Geheimnisse und Rätsel haben uns immer schon fasziniert, und ein Schriftsteller mit mystischer (vielleicht sogar göttlicher) Aura vermag beziehungsweise vermochte das lesende Publikum wahrscheinlich mehr zu überzeugen als ein profaner Texthandwerker, der seine Werkzeuge gut einzusetzen versteht. Wie meisterhaft sich jedoch Leser und deren Emotionen mit Poes Methoden führen lassen, erläutert der Schriftsteller anhand seines Gedichts „Der Rabe“ (The Raven). Schritt für Schritt zeigt er, wie er durch bewusste Storytelling-Entscheidungen die beklemmende Wirkung erzeugt, für die dieses Werk berühmt ist.

Frage 1: Wie endet die Story?

Jeder Aspekt des Geschichtenerzählens muss auf den Effekt hinarbeiten, der beim Publikum erreicht werden soll. Die Story baut sich also sozusagen vom Ende aus auf. Gute Autoren haben nach Poe daher beim Schreiben immer bereits das Ende im Blick. Und zwar bei jedem Wort, jedem Satz, jeder Zeile. Dieses „Ende“ ist bei Poe aber mehr als nur der Schluss der Handlung. Schließlich hat Storytelling – besonders nach Poes Verständnis – eine tiefe emotionale Komponente. Die Überlegungen zum Ende müssen daher auch Gedanken zur Wirkung auf Leserinnen und Leser beinhalten. Deren emotionaler Zustand am Schluss der Story ist genauso wichtig wie ein guter Ausgang der Handlung.

Frage 2: Wie lang soll die Story sein?

Für Poe war wichtig, das man das Werk ohne Unterbrechung an einem Tag lesen kann. Poe wusste, dass die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums für einen starken emotionalen Effekt notwendig ist. Daher vermutet Poe, dass ein Werk seine volle Wirkung nur entfaltet, wenn die Lektüre nicht unterbrochen werden muss. Zu kurz sollte der Text aber auch nicht sein. Wenn Content zu einem Epigramm schrumpft, könne kein anhaltender Effekt beim Publikum erzeugt werden. In Zeiten von Twitter und Messenger Apps könnte hinzugefügt werden: Die ideale Mindestlänge ist die, in der alle Botschaften und Emotionen kommuniziert werden können. Dann sind auch scheinbar kleine Content-Häppchen in der Lage, eine nachhaltige Wirkung zu zeigen.

Frage 3: Welchen Effekt soll die Story erzeugen?

Im Zentrum von Poes Methode steht der emotionale Effekt, den die Story bei der Leserschaft erzeugen soll. Um auch seine volle Wirkung zu entfalten, muss sich dieser Effekt wie ein roter Faden durch alle Story-Ebenen ziehen: angefangen beim Plot, über die Figuren bis hin zu den in der Story verwendeten Motiven. Für sein Gedicht „Der Rabe“ setzte Poe das Prinzip sogar auf phonologischer Ebene um. „Nevermore“, das berühmte, immer wiederkehrende Wort, wählte Poe besonders wegen seines Klangs aus. Dieser Klang, so Poe, weckt Assoziationen – weit über die reine Wortbedeutung hinaus.

Frage 4: Wie bleibt die Story im Gedächtnis?

Damit die Story ihr Publikum mitreißt und auch nach dem Lesen noch fesselt, empfiehlt Poe ein wiederkehrendes Element, eine Art Klammer, die das Werk zusammenhält. Bei jeder Wiederholung nimmt das Element mehr Raum in der Vorstellung der Leserinnen und Leser ein. So bleibt die Story lange in Erinnerung – auf dieselbe Weise können wir uns auch den Refrain eines Liedes am längsten merken. In „Der Rabe“ ist dieser Haken, der sich im Kopf der Leserschaft festmacht, selbstredend das Wort „Nevermore“. Ein weiteres berühmtes literarisches Beispiel findet sich in Shakespeares „Julius Cäsar“ mit der Phrase „Aber Brutus ist ein ehrenwerter Mann“. Aber auch andere wiederkehrende Elemente wie IKEAs konsequentes Du können ebenfalls den beabsichtigten emotionalen Effekt hervorrufen.

Frage 5: Wie baut die Story ihre Spannung auf?

Wie die perfekte Spannungskurve einer Geschichte aussieht, ist seit Tausenden von Jahren eine zentrale Frage im Storytelling. Aristoteles prägte das Bild eines klassischen dreiteiligen Spannungsbogens, Joseph Campbell verdanken wir die Spannungskurven moderner Hollywood-Filme. In „Der Rabe“ entsteht die Spannung aus dem Frage-und-Antwort-Spiel zwischen dem erzählenden Ich und dem Raben. Meisterhaft erhöht Poe die Spannung langsam aber unerbittlich bis zum Ende des Gedichts. Am Ende wartet keine Lösung auf die Leserinnen und Leser – und die Spannung bleibt noch hängen, wenn das Buch geschlossen ist. Und leise hallt es im Kopf nach: „Nevermore“.