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Agentur neu denken

Corona hat die Branche und ihre Kunden durchgeschüttelt. Neues Geschäft für Agenturen und Wettbewerbsvorteile als Trusted Advisor.
Giso Weyand | 23.11.2020
Agentur neu denken © Pixabay /qimono
 

Die letzten Monate sind ein Brennglas

War und ist das ein wilder Ritt! Corona hat die Branche und ihre Kunden durchgeschüttelt.
Und doch: die meisten Probleme, Abbrüche von Kundenbeziehungen, Turbulenzen sind Verstärkungen von Themen, die Agenturen seit einiger Jahren beschreiben:

• Die Unsicherheit ist groß, jetzt in Kommunikation zu investieren.
• Große Aufträge werden zunehmend in Häppchen verteilt – und die Agentur muss sich
ständig das nächste Häppchen verdienen.
• Der Kunde zögert Entscheidungen hinaus.
• Das Klima wird rauer.
• Kunden verlangen enorme Vorleistungen, bevor sie sich festlegen.
• Einkaufsabteilungen übernehmen immer mehr Kontrolle, verstehen jedoch nichts vom
Kern kreativer Leistung.
• Kunden wissen zwar immer seltener, was sie tun können, um weiterzukommen, reden
aber vermehrt in kreative Prozesse hinein.
• Die Honorare im Wettbewerb stagnieren oder sinken sogar
• Kunden sind enorm preissensibel, nicht nur vor der Auftragsvergabe, sondern auch
während der Zusammenarbeit und danach („Wofür brauchen Sie denn da so lange?“).

Dabei sind Kunden schon vor Corona und jetzt erst recht auf der Suche nach
Orientierung:

• „Welchen Kurs sollen wir einschlagen, wenn inzwischen sogar das Ziel unklar ist?“
• „Wir wissen überhaupt nicht mehr, was wir tun oder lassen sollen. Wenn uns doch nur jemand bei der Einordnung helfen würde.“
• „Die Konkurrenz ist irgendwie immer eine Nasenlänge voraus; ich verstehe überhaupt nicht wieso.“
• „Am Ende geht es um meine und unsere geschäftlichen Ziele. Wenn die bloß endlich jemand verstehen würde.“
• „Immer wieder kaufen wir die Katze im Sack ein. Mehr Transparenz und Messbarkeit wären wirklich gut. Auch um jetzt unsere Ausgaben zu rechtfertigen“

Klar ist: Viele dieser Probleme macht der Kunde sich selbst, sowohl durch seine Haltung als auch durch die Art und Weise der Agenturauswahl. Mitverantwortlich dafür ist auch die Marktsituation: Zig Anbieter konkurrieren um den Auftrag und sehen keine andere Alternative, als sich mit noch mehr Demut, noch mehr Fleiß und noch mehr gutem Willen durchzusetzen. Verstärkt durch Corona: Jetzt zählt jeder Euro doppelt. Wer als Agentur aus diesem Teufelskreis ausbrechen will, tut gut daran, seine Rolle in der Geschäftsbeziehung neu zu definieren: Die Agentur als Partner auf Augenhöhe und Trusted Advisor des Entscheiders. Womöglich ist jetzt die richtige Zeit dafür?

Echte Hilfe in der Problemwolke

Es gibt drei Rollen, die eine Agentur einnehmen kann: Dienstleister, Experte oder Trusted Advisor. Gemeint ist dabei nicht die persönliche Beziehung der Berater zu einzelnen Kunden, sondern was die Agentur für ihren Kunden tatsächlich IST. Ein erheblicher Unterschied, wie wir sehen werden:


Der brave Dienstleister macht einfach!

Wer sich als braver Dienstleister präsentiert oder von vorneherein in diese Schublade gesteckt wird, der wird als Lückenfüller gebucht. Der Kunde hat eine Strategie sowie eine Idee für die Umsetzung und sucht nun jemanden, der das für ihn „abarbeitet“. Er hat bereits einen klaren Maßnahmenkatalog im Kopf und fixe Kriterien, nach denen er die Agentur auswählen will. Also startet der Kunde einen entsprechenden Auswahlprozess, indem er potenzielle Agenturen auf Herz und Nieren prüft. Die Rolle der Agentur? Präsent sein, zeigen, was sie kann, und den Kunden überzeugen. Gesetzt den Fall, andere Agenturen sind auch gut darin, sich und ihre Ansätze zu präsentieren: Was macht der Kunde, zumal er sowieso nur 60 Prozent der Qualität sehen kann? Er wählt den günstigsten Anbieter oder verhandelt.


Im Projekt selbst besteht dann kaum noch die Möglichkeit, die fehlende Beziehung zum Entscheider zu kompensieren – außer durch Fleißarbeit: Hier mal eine Präsentation außer der Reihe, ein paar Stunden oder Tage Texterleistung extra, eine flotte Idee mehr. Und trotzdem:
Läuft etwas schief, versteht der Kunde eine Abrechnung nicht, passieren Fehler oder bestimmte Maßnahmen fruchten nicht, ist der Schuldige schnell gefunden…


Die Experten-Agentur löst das Problem!

Die Auswahl von Agenturen, die als Experten fungieren sollen, verläuft ähnlich, wenn auch etwas erfreulicher: Der Kunde kennt sein Problem (oder glaubt es zu kennen), legt aber noch keine konkreten Maßnahmen fest. Er sucht also eine Agentur, die sein Dilemma versteht und für die Lösung solcher Probleme prädestiniert ist. Sein Kompass bei der Auswahl: Profil und Referenzen der potenziellen Agenturen. Auch dieser Kunde startet einen Wettbewerb, sichtet
mehrere Agenturen. Und die Agenturen wollen beweisen: „Ich habe dich genau verstanden. Das ist die Aufgabe – und genau unser Ding! Hier ganz viele Beispiele und erste Ideen …“


Allerdings gilt auch in diesem Fall: Die anderen Agenturen sind ebenfalls fit und haben genauso wenig Beziehung zum Entscheider. Der Kunde wählt also erneut unter vielen Gleichrangigen, mal nach Preis, mal nach Bauchgefühl. Die Experten-Agentur darf ihre Arbeit machen, ihre Rolle im Prozess wird aber auch pragmatisch gesehen: „Die sind halt da, um das Problem zu lösen!“ So kommt es dann, das nach getaner Arbeit oft alle total zufrieden sind. Monate später erfährt die Agentur, man habe für ein neues Produkt, eine andere Kampagne, eine neue Strategie jemanden anderen beauftragt. Ganz ohne bösen Willen, an
den alten Experten dachte nur irgendwie keiner.


Die Agentur als Trusted Advisor: „Mit euch an der Seite erreiche ich meine
Ziele!“

• Viele Entscheider sind genauso unsicher wie ihre Konkurrenten. Sie wissen nicht mehr genau, was sie zuerst anpacken und wie sie kommenden Herausforderungen begegnen sollen. Ihre Ziele werden immer kurzfristiger, ihre Präsenz am Markt zunehmend der reinste Blindflug. An dieser Stelle setzt der Trusted Advisor an und bietet einen Schulterschluss: „Ich weiß jetzt auch noch nicht, was genau du tun musst. Ich kann dir aber dabei helfen ...
• deine Ziele zu klären
• zu verstehen, warum das oder jenes für dich, dein Unternehmen, deine Abteilung wichtig ist
• wichtige Probleme von unwichtigen zu unterscheiden und dir damit unnötige
Baustellen vom Hals zu halten
• den Weg erfolgreich Schritt für Schritt zu gehen
• die Leistungen der Agentur genau auf deinen Weg zuzuschneiden

Die Trusted Advisor-Agentur bietet also weder eine Einzelaktion noch die Lösung eines Teilproblems an, sondern eine Beziehung, die den Kunden langfristig weiterbringt. Diese Beziehung basiert auch auf der Grundlage von Expertise, ist auch rein beruflich – doch das Leistungsversprechen ist ein anderes. Das dennoch mit einer Teilleistung begonnen werden kann, dass man dennoch an einem Pitch teilnehmen kann – das ist davon unbenommen.

Ein neuer Weg, der sich lohnt!

Kunden, die ihre Agentur nach diesem Qualitätsmerkmal auswählen, legen eine andere Haltung an den Tag: Sie sind offener, wenden sich frühzeitig mit strategischen Fragen an ihre Agentur, erzählen, was sie bewegt. Sie sind bereit, höhere Honorare zu zahlen, hinterfragen nicht jede Abrechnung, akzeptieren, dass es nicht auf alles sofort eine Antwort geben kann.
Sie betrachten die kreative Leistung als gemeinschaftliches Ergebnis und nicht als Dienstleistung, die man einkauft. Sie verstehen ihre Agentur als Problemlöser und Partner an ihrer Seite. Und in Krisen wie Corona: Fragt sie ihre Agentur statt ihre Budgets einzufrieren.

Ein neuer Weg, der utopisch klingt?

Klingt zu schön, um möglich zu sein? In der Praxis erlebe ich das Gegenteil: Viele Entscheider wünschen sich einen echten Schulterschluss mit Agenturen. Und je weniger der Kunde selbst weiß, je weniger sich inhouse lösen lässt und je konfuser die Antworten auf seine konkreten Fragen, desto größer werden dieser Wunsch und das Bedürfnis, neue Wege zu gehen.


Doch natürlich

Bislang haben weder Kunden noch Agenturen Routine mit dem neuen Angebot „Beziehung und Schulterschluss“. Alle müssen sich umgewöhnen. Was bedeutet das?


1. Trusted Advisor denken zuerst an den Kunden
Das Denken des Trusted Advisors dreht sich um die Frage, was für den Kunden am besten ist
– und nicht für den eigenen Gewinn. Das klingt banal, ist aber für die meisten Agenturen eine
gravierende Umstellung. Denn üblicherweise denken sie bei der Auftragsanbahnung in zwei
parallelen Schienen: Was könnte der Kunde wohl gebrauchen? Wie überzeuge ich ihn davon,
der richtige Anbieter zu sein? Was könnte ihn noch begeistern, damit er uns bucht? Die Ego-
Schiene abzustellen ist ein bewusster Prozess, der Zeit braucht. Altruistisch sind wir dabei
indes nicht, aber realistisch: Nur ein Kunde, der spürbar und langfristig vorankommt, wird
seine Agentur auf Augenhöhe akzeptieren!

2. Trusted Advisor sprechen mit Entscheidern aus Marketing und Business

Eine der Schwierigkeiten bei der Arbeit an echten Zielen ist die Entkopplung der Marketingund Kommunikationsabteilungen von den echten Zielen der Business-Units. Je nach Struktur der Kundenorganisation reicht die Ziel-Kenntnis von totaler Ahnungslosigkeit, über vage Gefühle bis hin zur echten Beteiligung. Entsprechend wichtig ist es, alle wichtigen Entscheider auch aus dem Business an Bord zu haben – und zwar beim Prozess der Angebotserstellung und sogar vor/bei Pitches. Klingt banaler als es in der Praxis ist, wie wir alle wissen. Ein spezielles und ausgeprägtes Handwerkszeug der Kundenberater mit einem
großen Repertoire kann dies dennoch Wirklichkeit werden lassen – viel öfter als die meisten Agenturen für möglich gehalten hätten.

3. Trusted Advisor machen ihre Haltung von Anfang an klar

Eine klare Haltung, ein Nein an der richtigen Stelle, unangenehme, aber zielführende Fragen, hohe Honorare … Das kann sich jeder trauen, sobald der Auftrag unterschrieben ist. Doch als Trusted Advisor geht es darum, dem Kunden von Anfang an, also schon vor der Beauftragung zu zeigen, wie wichtig er uns ist, indem wir direkte Fragen stellen, ungewöhnliche Lösungswege avisieren und auch mal sagen, dass wir etwas noch nicht wissen. Wer so etwas
macht, der riskiert sogar den Auftrag, beweist damit aber, dass es ihm nicht ums schnelle Geld in der eigenen Tasche geht. Ein echter Trusted Advisor eben.

Wer den Anspruch hat, die Kundenziele wirklich zu verstehen, und sich Gedanken über den richtigen Weg macht, muss vorab intensive Gespräche führen. Das braucht Zeit. Zeit, die den Kunden bereits weiterbringt, aber nicht oder nur geringfügig vergütet wird. Andererseits baust
du in dieser Zeit schon eine Beziehung zu dem Kunden auf und musst weniger Zeit in die Vorbereitung aufwendiger, oft genug erfolgloser Pitches investieren.


4. Trusted Avisor fragen nach dem „Wozu“?

Die Art der Gesprächsführung von Dienstleistern, Experten und Trusted Advisors unterscheidet sich grundlegend. Der brave Dienstleister stellt Verständnisfragen: „Ist es richtig, dass Sie x, y, z brauchen?“ Danach versucht er, den Entscheider davon zu überzeugen, dass sein Unternehmen genau der richtige Anbieter ist. Der Experte versucht, den Sachkontext des Auftrags nachzuvollziehen: „Was genau heißt: Sie bekommen bei der Zielgruppe keinen Fuß in die Tür? Was haben Sie schon versucht?“ Das macht der Trusted
Advisor zwar auch, geht aber einen Schritt weiter und erfragt den persönlichen Kontext des Auftrags: „Was wird sich verändern, wenn das Problem gelöst ist? Welche Ziele will Ihr Unternehmen damit erreichen? Welche Ziele erreicht das einzelne Projekt? Was wird für Sie persönlich anders sein?“

Was hier stark gerafft dargestellt ist, verlangt in der Praxis eine differenzierte
Gesprächstechnik, die mit den Jahren gelernt und weiterentwickelt wird. Dazu gehört auch, die echten Entscheider an den Tisch zu bekommen.

5. Trusted Advisor bieten anders an

Wer als Trusted Advisor auftritt, muss seine Angebote entsprechend anpassen. So werden nicht so sehr Einzelmaßnahmen aufgeführt (Vergleichbarkeitsfalle!), sondern vor allem die konkreten Ziele des Entscheiders formuliert. Das genannte Honorar setzt der Kunde somit in Bezug zu seinen Zielen: Er kauft die Beziehung zu dem Trusted Advisor und seinem Team sowie deren Einsatz für seine Ziele. Ein enormer Ertragshebel, sobald das Modell etabliert ist.


6. Trusted Advisor können Geld davonziehen lassen

Klar ist: Dieses Modell ist nicht für jedermann. Mit Kunden, die auf ihre Standardprozesse Wert legen, keine Zeit in persönliche Gespräche investieren möchten, die sich nicht öffnen oder schlichtweg einen braven Dienstleister oder Experten suchen, wird man in Zukunft also kein Geschäft mehr machen. Dieses Geld davonziehen zu lassen ist vermutlich der härteste Lernprozess auf dem Weg zum erfolgreichen Trusted Advisor.


7. Trusted Advisor vermarkten Beziehungen

Marke und Marketing eines Trusted Advisors drehen sich nicht zuletzt um die Beziehung zum Kunden. Statt eigener Leistungen und toller Referenzen (die sind bei der Konkurrenz nicht schlechter!) greift die Markenwelt des Trusted Advisors Problemkorridore der Kunden und deren Ziele auf. Der Agentur gelingt es durch relevante neue Inhalte, ihren potenziellen Kunden den Alltag zu erleichtern, lange bevor es zum Auftrag kommt. Auf diese Weise wächst bei dem Entscheider der Eindruck, dass diese Agentur für ihn persönlich wichtig
werden könnte, weil sie anders ist und sich mit den Themen beschäftigt, die ihn umtreiben.


8. Gute Nachricht: Auch Experten sind nötig

Trotz allem wird es in jedem Projekt immer auch Bedarf an Experten geben, um die praktische Durchführung zu garantieren. Die Mitarbeiter der Agentur können also weiterhin tun, was sie gut können. Trusted Advisor hingegen ist die Philosophie des Unternehmers, der Marke und jener Protagonisten, die in den Prozessen von Auftragsanbahnung und Beziehungsmanagement zum Kunden aktiv sind. Ein lohnenswerter Kulturwandel.


Fazit

Was wie eine Utopie klingt, ist nicht nur ein praktikabler, sondern auch sinnstiftender Weg, wenn wir bereit sind, ihn konsequent zu gehen. Schrittweise über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren. Doch wofür das Ganze? In erster Linie, weil wir als den Sinn unserer Arbeit darin sehen, jemandem beim Erreichen seiner Ziele zur Seite zu stehen. Weil Kreative noch lieber ihre Arbeit machen und für uns arbeiten wollen, wenn sie ihre Wichtigkeit sehen. Weil wir auf Beziehung Wert legen. Weil wir keine Lust auf Sperenzchen haben. Und weil wir mit herausragender Arbeit einen herausragenden Ertrag erwirtschaften möchten.