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Brands mit "Purpose“ haben die Nase vorn

Für Kunden wichtiger als je zuvor: Der „Purpose“ der Produkte, Dienstleistungen und Marken.
Anne M. Schüller | 10.05.2021
© freepik
 

Der Purpose ist der Daseinssinn, das Warum, Weshalb, Wofür und Wieso eines Unternehmens, seine Bestimmung, die Philosophie hinter dem Geschäftsmodell, der sinnstiftende Wesenskern, die Leitmaxime für alles Handeln. Er bestimmt dessen Identität und drückt aus, weshalb das Unternehmen existiert und was es in die Welt bringen will. 

Diese Denke lässt sich auch auf das Produkt- und Markenmanagement übertragen. „Was ist der originäre Sinn und Zweck unserer Leistungen für die Kunden?“, so lautet die Frage in diesem Fall. Der entscheidende Punkt dabei ist der, von der Anbieter- auf die Nachfrageperspektive umzuschalten.

Somit geht der Fokus weg vom reinen Produktverkauf und auch weg von der Konkurrenz, mit der man sich messen will. Er geht vielmehr hin zur individuellen Erledigung von Aufgaben für möglichst gute Kunden. Damit einher gehen auch die als Customer Experiences bezeichneten Erfahrungen und Erlebnisse, die die Anbieterleistungen bieten. 

Idealerweise hat der Purpose eine ökonomische, ökologische und soziale Dimension. Denn die Menschen wollen zunehmend wissen: Was ist der Beitrag des Unternehmens für die Gesellschaft und unsere Umwelt, so dass unsere gemeinsame Zukunft lebenswert bleibt? Diese Frage stellt sich nicht nur dann, wenn man bei jüngeren Zielgruppen punkten will, sondern zunehmend in allen Teilen der Bevölkerung.

„Purpose Brands“ haben die Nase vorn

Interessant ist in diesem Kontext die „Jobs to be done“-Strategie, entwickelt von Harvard-Professor Clayton M. Christensen. Demzufolge stehen nicht die Leistungsmerkmale eines Produktes im Fokus, sondern dessen tieferer Sinn und damit die Frage: Mit welcher Aufgabe beauftragt der Kunde ein Produkt? Dabei geht es nicht um banale Offensichtlichkeiten, sondern um die tatsächlichen Beweggründe, die oft verborgen dahinterliegen. 

Was ein Kunde sich etwa beim Möbelkauf implizit wünscht: „Hilf mir, meine Wohnung heute neu einzurichten.“ Die beste Antwort darauf hat Ikea. Solche Marken nennt man „Purpose Brands“. Sie sagen klipp und klar, welche Aufgaben sie erledigen können und wodurch sie sich differenzieren. Sie kommen einem sofort in den Sinn, wenn man eine entsprechende Aufgabe zu bewältigen hat.

Zum Beispiel sieht sich Google nicht selbstfokussiert als größter globaler Suchmaschinenbetreiber, sondern „organisiert die Informationen der Welt.“ Amazon will nicht das Kaufportal Nummer eins sein, sondern „die höchste Kundenzufriedenheit der Welt“ erreichen. Tesla „treibt den Übergang zu nachhaltiger Energie voran.“ 

Der Online-Händler Zappos propagiert: „Deliver happiness and not just shoes.“ „Wertschöpfung durch Wertschätzung“, sagt die Hotelkette Upstalsboom. An solchen Formulierungen erkennt man genau: Es geht nicht darum, wer ein Anbieter ist und was er macht, sondern um den Impact, den er in die Welt bringen will.

Den Job verstehen, den ein Angebot macht

Was demnach zu ergründen ist: Das tiefere Anliegen, die höhere Bedeutung und die ganz besondere Rolle, die eine Lösung im Leben der Menschen spielen kann. Was bedeutet: Weg vom Produkt, hin zum Purpose. Wir müssen den wirklichen Job verstehen, den ein Angebot macht.

Etwa so: Niemand interessiert sich für die Zusammensetzung eines Parfums, aber wir wollen alle gut riechen. Oder so: Der Kunde will keinen Staubsauger kaufen, er will eine saubere Wohnung. Staubsauber sind kopierbar, und wenn alles gleich ist, entscheidet nur noch der Preis. Über die Reinigungswirkung hingegen eröffnet sich eine vielfältige Welt, die zu einem neuen Daseinssinn werden kann. 

So hat sich die Logistikmarke UPS vom United Parcel Service zum United Problem Solver, also von einem Logistikanbieter zu einem Rundum-Service-Partner gewandelt. Oder nehmen wir Vitra. Diese Marke hat sich vom reinen Büromöbelhersteller zu einem Gestaltungshelfer für moderne Arbeitslandschaften weiterentwickelt. 

Berater Christian Kalkbrenner erzählt: Ein Skihersteller hat analysiert, dass die Drehfreudigkeit seiner Skier nicht nur mehr Fahrspaß bringt, sondern auch der Ermüdung vorbeugt und damit die Verletzungsgefahr reduziert. Daraus leitete er den Purpose ab, ab jetzt nur noch verletzungsminimierende Sportartikel zu machen.

So lässt sich ein Purpose entwickeln

Ein Softwarehaus hatte sich als technologisch führender Lösungsanbieter gesehen, sich auch so im Markt verhalten und entsprechend die Produktentwicklung gesteuert. Die Vermarktung war durch Preiskämpfe und ein ständiges Ringen um neue Funktionen mit dem Wettbewerb geprägt. Doch jede neue Funktion hat die Konkurrenz nach kurzer Zeit kopiert, jede Zertifizierung übertrumpft. Die Kunden konnten den neuen Versionen und Funktionen kaum mehr folgen. Großteils hatten sie auch gar keinen Bedarf dafür. 

Durch die Purpose-Profilierung und die damit verbundene intensive Beschäftigung mit den Kunden hat sich dann ein ganz anderes Bild ergeben. Der Anbieter hat erkannt, dass seine Kunden auf eine ganz andere Art Unterstützung benötigen: Die Implementierung einer Lösung zusammen mit den entsprechenden Prozessen rund um den Einsatz der Software war für sie viel entscheidender als alle sechs Monate eine neue Funktion. 

Dies hat das Markenselbstverständnis völlig verändert. Der Anbieter hat einen 180-Grad-Schwenk hingelegt. Früher hieß es: „Wie bieten die beste Technik und sind Vorreiter in unserem Marktsegment.“ Nun heißt es: „Wir helfen unseren Kunden, ein erfolgreiches Geschäftsmodell zu betreiben, indem wir die passenden Lösungen aufbauen und in Einklang mit den Kunden optimieren.“

Kein Purpose? Dann wird es schwierig

Wenn Menschen eine Aufgabe zu bewältigen haben, holen sie das dazu passende Konzept in ihr Leben: um voranzukommen, um erfolgreicher zu sein, um eine bessere Zukunft zu haben. Wann? Möglichst sofort. Wie? Möglichst anstrengungsfrei. Das ganze am liebsten so individuell wie möglich — und zu einem guten Preis.

Dabei spielen nicht nur funktionale, sondern auch soziale und emotionale Dimensionen eine maßgebliche Rolle. Oft wollen wir nicht nur uns selbst Gutes tun, sondern auch auf andere wirken, um Fürsorge, Coolness, Lifestyle oder was auch immer zu zeigen. Menschen sind Selbstdarsteller und Inszenierungskünstler, wozu die sozialen Medien fantastische Werkzeuge bieten.

Hier noch ein paar PS, da mehr Inhalt, dort neue Features, die Verpackung größer, das Etikett bunter? Das allein reicht nicht. Wer durch die Brille des Kunden schaut und Hürden erkennt, die den Fortschritt hemmen oder Frust erzeugen, hat einen ersten Hinweis auf ein tatsächliches Innovationsfeld. 

Doch längst nicht alles, was rein technisch möglich ist, ergibt für den Kunden Sinn. Keine neue Technologie ist per se interessant. Interessant ist vielmehr das, was wir durch sie erreichen. Viele neue Produkteigenschaften dokumentieren zwar Ingenieurs- und Designerkunst, sind aber für den Nutzer nicht von Belang, weil sie keinen Purpose in sich tragen. Hohe Flopraten sind dann vorprogrammiert.

 

Das Buch zum Thema

Anne M. Schüller, Alex T. Steffen

Die Orbit-Organisation

In 9 Schritten zum Unternehmensmodell

für die digitale Zukunft

Gabal Verlag 2019, 312 Seiten, 34,90 Euro

ISBN: 978-3869368993