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Mit Retail Media neue Kunden gewinnen

Retail Media ist ein schnell wachsender, margenstarker Kanal. Diese Schritte sind jetzt notwendig, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Andreas Schwabe | 11.07.2022
Mit Retail Media neue Kunden gewinnen © BCG
 

Top-Einzelhändler nutzen das wachstums- und margenstarke Retail-Media-Geschäft, um Strategien zu finanzieren, die ihre Prioritäten und ihre Wettbewerbsposition untermauern. Dies führt nicht nur zu einer Disruption in der digitalen Werbebranche, sondern auch zu einer Transformation der Retail-Landschaft. Bislang waren große Unternehmen im Bereich Retail Media das Maß aller Dinge und Unternehmen aller Größenordnungen mussten notgedrungen diese Chance ergreifen und bis auf das Letzte ausreizen, um gegenüber den Early Adopters nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Das Retail-Media-Geschäft verändert sich stetig und wächst immer schneller. Daher haben BCG und Google sich zusammengetan, um zu untersuchen, wie sich Unternehmen beim Ausbau ihres Retail-Media-Geschäfts optimal positionieren können. BCG interviewte mehr als 50 Retail-Media-Führungskräfte und -Experten in den Bereichen Omni-Retail, Pure-Play-E-Commerce, Reise- und Automobilindustrie. Unsere Studie bietet einen tiefen Einblick in die Marktdynamik und die nächsten taktischen Schritte, die Unternehmen unterschiedlichster Größe gehen sollten, um diese Chance im Rahmen ihrer Jahresplanung beim Schopf zu fassen.

Das Retail-Media-Geschäftspotenzial

Wir gehen davon aus, dass der Retail-Media-Markt in den nächsten fünf Jahren um 25 % pro Jahr auf 100 Milliarden US-Dollar anwachsen und bis zum Jahr 2026 25 % der Gesamtausgaben für digitale Medien ausmachen wird. Quasi wöchentlich gibt es in den USA neue Schlagzeilen, die die Gründung eines neuen Retail-Media-Netzwerks verkünden, von Michaels (Arts and Craft Supplies) bis Nordstrom (Department Store). Ein Retail-Media-Netzwerk ist im Wesentlichen das Anzeigengeschäft eines Einzelhändlers, welches Werbeträgern den Kauf von Werbeflächen in den proprietären (Onsite-)Kanälen des Einzelhändlers und Paid Media (Offsite) ermöglicht; hierbei werden Verbraucherdaten dazu genutzt, um Verbraucher entlang der Buyer-Journey gezielt anzusprechen.

Die Stärke von Retail Media besteht darin, dass Werbeträger dank eines geschlossenen Regelmesskreises volle Transparenz über die erbrachte Anzeigenleistung haben und somit in der Lage sind, Medienkampagnen mit zugehörigen Omnichannel-Verkäufen zu verknüpfen. Der bisherige Erfolg von Retail Media als Geschäftschance und als Marketingkanal hat auch andere Branchen wie die Reise- und Automobilbranche dazu veranlasst, stärker in diesem Bereich zu investieren. Nach unserer Schätzung könnte die erweiterte Branchengruppe, die wir unter der Bezeichnung „Commerce Media“ zusammenfassen, in den nächsten fünf Jahren einen zusätzlichen Umsatzbeitrag von 10 Milliarden Dollar zum bereits geschätzten Retail-Media-Nettoumsatz von 100 Milliarden Dollar in den USA leisten. (Siehe Abbildung 1.)

 

 

Während viele größere Markteinsteiger sich bei ihren Retail-Media-Kampagnen anfangs auf die Monetarisierung ihrer proprietären Kanäle konzentrierten, nutzten viele kleine oder mittelgroße Anbieter Offsite-Kanäle, um ihren Einstieg in den Retail-Media-Markt zu beschleunigen. Offsite-Kanäle bieten Unternehmen aller Größenordnungen große Vorteile, da sie ihnen Zugang zu einer breiteren Zielgruppe geben, diese auf die eigene Website umlenken und somit zur Skalierung des eigenen Onsite-Geschäfts beitragen. Dank dieser Dynamik sind Unternehmen nicht nur in der Lage, Geld zu sparen, sondern auch eigene Anzeigenkampagnen mitzufinanzieren. Da Onsite- und Offsite-Kanäle sich gegenseitig enorm verstärken, benötigen Unternehmen beide Kanäle, um ein ausgereiftes Retail-Media-Netzwerk aufzubauen.

Ein besonders mächtiger – und transformativer – Aspekt des Retail-Media-Geschäfts liegt in dem enorm hohen Gewinnmargenpotenzial. Unserer Schätzung zufolge wird das Commerce-Media-Geschäft bei einem Umsatz von 110-Milliarden-Dollar im Jahr 2026 bis zu 75 Milliarden Dollar Gewinn erwirtschaften.

Kunden, Mediaeinkäufer und Technologie kommen Marktführern zugute

Im Bereich Retail Media haben sich bereits einige Marktführer herauskristallisiert. Amazon bleibt mit einem Retail-Media-Anteil von 60 % der größte Akteur in diesem Markt. (Siehe Abbildung 2.) Hinter Amazon folgen einige große Einzelhändler wie Walmart und Target, mit Media-Netzwerken im Wert von über 1 Milliarde Dollar und einem Marktanteil von 25 %. Für die Zukunft erwarten wir jedoch ein signifikantes Wachstum bei kleineren Anbietern; wir rechnen sogar damit, dass diese in den nächsten fünf Jahren schneller wachsen werden als Amazon oder einer der anderen Marktführer.

 

 

Auch wenn kleinere Anbieter schneller wachsen, profitieren etablierte Anbieter auch weiterhin von drei Faktoren:

 

  • Umfrangreiche Kundendaten und enge Kundenbeziehungen: Der Wert eines Retail-Media-Geschäfts hängt weitgehend von der Stärke der Kundenbeziehungen Einzelhändler mit umfangreichen Kundendatenbanken und engen Kundenbeziehungen können ihre Kunden mit personalisierter Werbung gezielt ansprechen und ihnen so ein nahtloses Kundenerlebnis bieten, und Werbeträgern gleichzeitig eine hohe Rendite bieten.
  • Verhältnis zu Mediaeinkäufern: Bei jedem neuen Retail-Media-Geschäft müssen Mediaeinkäufer in Schulung und Kommunikation investieren. Unternehmen, die früh in den Markt eingestiegen sind und über eine große Reichweite und einfache Einkaufsschnittstellen verfügen, sind im Vorteil und werden wahrscheinlich auch zukünftig – bei zunehmender Marktreife – für Mediaeinkäufer attraktiv bleiben.
  • Aufbau eines skalierbaren Technologiestacks: Dank enger Kundenbeziehungen und ihres soliden Verhältnisses zu Mediaeinkäufern können frühe Einsteiger in den Retail-Media-Markt bereits heute Skaleneffekte erzielen und in zukunftsorientierte Technologien und Mitarbeiter investieren, um ihr Wachstum zu beschleunigen. Der Technologiestack umfasst folgende Kernkomponenten: Benutzeroberfläche, Datenmanagement-Plattform, Identitätsauflösung, Audience Building, Auftragsmanagement, Adserving und Impression Tracking, Kampagnenmessung sowie Rechnungs- und Zahlungsabwicklung.

 

Diese drei Faktoren (Kunden, Mediaeinkäufer und Technologie) kommen den derzeitigen Marktführern zugute, dennoch haben auch andere Marktteilnehmer noch Chancen auf Erfolg, wenn sie schnell handeln. Marketingfachleute und Werbeträger werden nach Wegen suchen müssen, um Kunden an verschiedensten Orten individuell zu erreichen; wir erwarten, dass sich in jeder Branche mehrere Marktführer herauskristallisieren werden.

Taktische Schritte für 2022

Im weiteren Sinne des Begriffs „Commerce Media“ hat jede Branche einen bestimmten Reifegrad erreicht. Beispielsweise gibt es in der Reisebranche eine Vielzahl ausgereifter Media-Netzwerke; Einzelhändler verstärken ihre Bemühungen, den bereits massiven Zugang zu Kunden noch weiter auszubauen; und die meisten Aggregatoren in der Automobilbranche befinden sich zwar noch im Anfangsstadium, suchen aber nach Wachstumsmöglichkeiten.

Unsere Studie zeigt, dass Unternehmen unterschiedlicher Größenordnungen in drei Schlüsseldimensionen unterschiedliche Reifegrade erreicht haben: Daten, Produkt und Technologie, Mitarbeiter. In allen drei Dimensionen sind größere Unternehmen generell reifer als Segmentspezialisten, die wiederum reifer sind als Nischenanbieter. Ausgehend von den Ergebnissen unserer Studie schlagen wir für die Zukunft folgende Initiativen vor.

Marktführer sollten sich auf die Zentralisierung von Daten, die effektive Nutzung von API-Schnittstellen und die Nutzung von Skaleneffekten konzentrieren:

 

  • Daten: Verknüpfung von Kunden- und Anzeigendaten in einer zentralen Datenbank als Basis für einheitliche Personalisierung und Schaffung eines integrierten Kundenerlebnisses für internes Marketing und Lieferantenmarketing. Entwicklung von „Extract, Transform & Load (ETL)“-Projekten, einschließlich Integration in vorhandene Data-Science-Funktionen entlang des gesamten Value Stream, um Pricing- und Bestandsprognosefähigkeiten und die Relevanz der geschalteten Anzeigen zu optimieren.
  • Produkt und Technologie: Konzentration auf API-Schnittstellen zur Automatisierung und Integration der Wertschöpfungskette, um die Konnektivität der Kernfunktionen zu verbessern. Ein sinnvolles Projekt wäre die Entwicklung einer Produktanzeigen-API, zur vereinfachten Integration in proprietäre Webkanäle. Aufbau externer Paid-Media-Partnerschaften, um durch Sicherung von Preisen und Premium-Beständen für Offsite-Kampagnen das Produktportfolio zu optimieren und Lagerbestände aufbauen. Untersuchung und perspektivische Entwicklung von Angebots- und Ergebnisfunktionen, intern oder in Kooperation mit Partnern.
  • Mitarbeiter: Gezielte Nutzung von Skaleneffekten bei zunehmender Teamgröße. Mit zunehmendem Reifegrad der Retail-Media-Initiativen verlagert sich der Schwerpunkt der Monetarisierung von neuen Initiativen zur Wartung von Technologie und Produkten. Auch im Vertrieb ist eine Verlagerung von der Lead-Generierung zum Account-Management zu erwarten. Entwicklung klarer Karrierepfade für Leistungsträger in der Retail-Media-Organisation, innerhalb oder außerhalb der Gruppe (u. a. auch in den Bereichen Digital, Personalisierung oder Marketing im Allgemeinen). Frühzeitige Planung dieses Übergangs von der Startup- zur Steady-State-Phase, um bei zunehmender Geschäftsreife den operativen Erfolg zu sichern.

 

Für Kategoriespezialisten, die in Audience-Building-Fähigkeiten investieren, gelten folgende Prioritäten: Formulierung des Wertversprechens und Einführung agiler Methoden.

 

  • Daten: Identifizieren Sie einzigartige First-Party-Datasets, die Ihnen in Ihrer Kategorie beim Targeting und bei der Segmentierung einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Stellen Sie sicher, dass Ihre Daten bereinigt sind, und reichern Sie Ihre Daten nach und nach an (z. B. durch ein Treueprogramm). Investieren Sie in Audience-Building-Funktionen – diese können entweder intern entwickelt oder von einem Drittanbieter bezogen werden.
  • Produkt und Technologie: Formulieren Sie Ihr Wertversprechen klar und deutlich: warum sollte Ihr Unternehmen – und nicht die bekannten Marktführer – ein größeres Stück vom Retail-Media-Kuchen bekommen? Erstellen Sie eine robuste Omnichannel-Produkt-Roadmap und erwägen Sie die Automatisierung einzelner Wertschöpfungskettenelemente, um die Skalierung vorzubereiten. Order Management, Ad Ops und Fakturierungslösungen können beim Übergang von einem noch jungen Netzwerk in die Skalierungsphase große Probleme bereiten. Nutzen Sie Offsite-Kampagnen, um Ihren Bestand aufzustocken und um mehr Traffic auf Ihrer Website zu generieren, um Ihr eigenes Kanalangebot zu stärken und um mit Retargeting-Produkten mehr kanalübergreifende Verbindungspunkte zu schaffen.
  • Mitarbeiter: Beschleunigen Sie die Einstellung geeigneter Talente in den Bereichen Produktentwicklung, Technologieinfrastruktur, Operations, interner Vertrieb und Account Management. Investieren Sie in die Einführung neuer Arbeitsweisen und legen Sie dabei den Fokus auf agile Methoden. Führungskräfte müssen „Growth-Tech“-Unternehmergeist demonstrieren und ihre Teams ständig dazu ermutigen, neue Ideen zu entwickeln, auch wenn diese gelegentlich scheitern. Nur so ist ein Weiterkommen möglich.

 

Nischenanbieter sollten ihre Prioritäten u. a. auf die Entwicklung schneller Prognosefähigkeiten, die Bereitstellung von Proofs of Concept (POCs) und die Stärkung ihrer Vertriebs- und Monetarisierungsfunktionen legen:

 

  • Daten: Nutzen Sie Kanalanalysen (eigene und „paid“) und Kundendatenbanken für schnelle Prognosen und die Bewertung von Chancenpotenzialen für Anzeigenprodukte (z. B. Impressions, Zielgruppengröße und historische Kosten).
  • Produkt und Technologie: Entwickeln Sie erste Use-Cases für Produkte. Priorisieren Sie POCs und stellen Sie diese bereit. Identifizieren und definieren Sie eine Reihe von technologischen Kernfähigkeiten, die zur Durchführung von POCs erforderlich sind, und überlegen Sie, wie ihre POCs langfristig skaliert werden können. Bewerten und wählen Sie Technologieanbieter für Adserving, Order Management-, Mess-/Reporting- und Fakturierungslösungen aus. Analysieren Sie historische Paid-Media-Daten, bevor Sie die Preise für ihre Paid-Media-Produkte festlegen. Nutzen Sie Offsite-Kampagnen, wenn der unternehmenseigene Kanal nur eine begrenzte Reichweite hat.
  • Mitarbeiter: Weisen Sie Mitarbeitern Rollen in den Bereichen Vertrieb und Monetarisierung zu, oder stellen Sie hierfür neue Mitarbeiter ein. Aufgabe des Vertriebs ist die Nachfragegenerierung und die Verwaltung von Alpha-/Beta-Kunden; bei der Monetarisierung geht es in erster Linie um die Bereitstellung von Minimum Viable Products (MVPs) für Anzeigenprodukte. Sorgen Sie dafür, dass diese Teams die nötige Unterstützung für die Bereitstellung und effektive Tests in cross-funktionalen Einheiten erhalten (z. B. Web Experience oder Performance Marketing).

 

Retail Media ist ein schnell wachsender, margenstarker Werbekanal. Um bei Retail Media erfolgreich zu sein, muss man diesen neuen Kanal nicht nur aus dem Effeff beherrschen. Man muss diesen riesigen neuen Profitpool dazu nutzen, um in das Geschäft zu reinvestieren und um den Wettbewerbsvorteil des Unternehmens in seinem Kerngeschäft neu zu definieren. Angesichts dieser Voraussetzungen müssen Unternehmen aller Größenordnungen möglichst schnell in diesen Markt einsteigen und ihren Retail-Media-Umsatz steigern, um nicht Gefahr zu laufen, den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren.

 

Die in diesem Artikel präsentierten Schlussfolgerungen entsprechen ausschließlich der Meinung von BCG und nicht der Meinung anderer Studienteilnehmer. Vielen Dank an meine BCG Kollegen Lauren Wiener, Leora Kelman, Kale Hungerson und Mark Abraham für die Erstellung der Studie sowie Vincent Ho und Maslen Ward für Ihre Unterstützung.

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Über Andreas Schwabe

Andreas Schwabe, Partner & Director bei BCG in München, zuständig für Marketing Transformation und Retail Media.