Personalisierung im mobilen Zeitalter
Die Zukunft sei mobil, heißt es seit mehr als einem Jahrzehnt. In den meisten Unternehmen hierzulande hat sich nach anfänglicher Hektik diesbezüglich jedoch nicht mehr viel getan. Anbieter aus den USA und Asien haben hier die Nase offenbar uneinholbar weit vorn. Zudem beginnt die Diskussion um das Metaversum, dieses wichtige Thema, aus dem Fokus der Digitalstrategen in den Unternehmen zu drängen.
Die Ausgangssituation
Die Coronakrise der letzten Jahre wirkte dabei wie ein Brennglas: Während der Pandemie wird das eigene Zuhause aus Sicht der Kunden zum Büro, Kino, Fitnessstudio, Einkaufszentrum, Restaurant und Spielhalle. Das Smartphone übernimmt die Rolle des Informations- und Wissensvermittlers, Entertainers, Fitnesspartners, der Spielkonsole, oder Geldbörse [1]. Laut der AdAlliance Mobile 360-Grad-Studie vom 30. November 2021 nutzen 96 Prozent der Smartphone-Nutzer ihr Smartphone täglich [2]. 61 Prozent der Befragten gaben an, ihr Smartphone zur Informationsrecherche zu nutzen [2].
Der Google Playstore bietet derzeit rund 2,66 Millionen Apps zum Download an [3]. Nur ein Bruchteil davon gelangt auf die Smartphones der Nutzer und davon nur 20 bis 24 auf den Homescreen von deren Smartphones. Dadurch, dass sich die Interaktion eines Nutzers oder Kunden immer mehr vom Desktop auf das Smartphone verlagert, bei gleichzeitig sehr begrenztem Platz und eingeschränkter Sichtbarkeit dort. Es ist längst ein Kampf um die besten Plätze entbrannt. Es geht um den Zugang zum Kunden über das mobile Gerät.
Die Smartphone-App entwickelt sich immer mehr zum wichtigsten Zugang zum Endkunden. Dies gilt insbesondere in den Bereichen E-Commerce, Entertainment und Finanzen, betrifft mittlerweile aber nahezu alle Branchen, Produkte und Dienstleistungen – selbst im B2B- Bereich. Folglich wechselte Google bei der Indexierung von Suchtreffern im Jahr 2021 von Mobile First zu Mobile Only [4]. Datenschutz- und Browser-Beschränkungen sorgen dafür, dass Nutzer, die keine App nutzen oder nicht eingeloggt sind, weniger erkennbar sind – was Unternehmen wie Amazon, Facebook und Uber enorme Vorteile gegenüber Betreibern klassischer Websites und Webshops bietet.
Die großen US-Tech-Konzerne haben sich für diese Mobile-Only-Welt bereits vor Jahren sehr gut positioniert. Auch in Deutschland gibt es eine wachsende Zahl von Unternehmen mit erfolgreichem Mobile (only)-Ansatz wie FreeNow, HeyCar, Joyn, Gorillas, Tomorrow, N26 oder auch OneFootball. Täglich werden neue Start-ups gegründet, die diesen Ansatz verfolgen.
Allerdings tun sich die meisten alteingesessenen Unternehmen hierzulande mit dieser neuen, ausschließlich mobilen Welt schwer. Strukturen, Prozesse, Mitarbeiter und der Technologiepark wurden in den letzten Jahren mehr oder weniger erfolgreich über die Website in Richtung Digitalisierung „transformiert“. Um den Kundenzugang nicht zu verlieren, sind sie nun gezwungen, ihre Strategie erneut anzupassen und in mobile Apps zu investieren. Dies erfordert jedoch nicht nur ein Umdenken, sondern oftmals einen komplett neuen, angepassten Go-To- Market-Ansatz, weitere Investitionen, neue Fähigkeiten im Team und noch mehr organisationsübergreifenden Fokus auf den Kunden.
Der Weg zur mobilen Strategie
Vielen Menschen in Deutschland, die vor 1990 geboren sind, insbesondere also den geburtenstarken Jahrgängen, fällt es schwer, mit der zunehmenden Digitalisierung umzugehen. Sie nutzen nach wie vor analoge Angebote und halten an ihren Gewohnheiten fest. Für lokal tätige Unternehmen reduzierte dies offenbar in den vergangenen Jahren den Druck hin zur Digitalisierung und mobilen Strategie. Wer jedoch international im Wettbewerb steht, den Zugang zu seinen digitalen Kunden oder Nutzern von morgen im Auge hat oder diesen Zugang in einer Mobile-Only-Welt nicht verlieren will, braucht eine digitale Strategie mit Fokus auf mobile Themen, um weiter bestehen zu können.
Die erste Voraussetzung für die mobile Strategie ist, dass Sie eine Idee und einen Business Case für eine mobile App haben. Ziel ist es, eine App zu entwickeln, die Nutzer nicht nur installieren, sondern auch regelmäßig nutzen möchten. 2,66 Millionen Unternehmen weltweit haben es bereits in den Google Appstore geschafft, wo liegen also die Hürden?
Ihr Business- oder Mobile-Produkt braucht neben einer gewissen Bekanntheit beziehungsweise Reichweite bei den Usern ein Alleinstellungsmerkmal sowie ein schlüssiges Konzept für die Entwicklung und Gestaltung der Mobile App. Darüber hinaus werden Entwickler-Ressourcen benötigt, um die App zu programmieren und die Inhalte und Interaktionsmöglichkeiten bereitzustellen. Aber gute Entwickler sind rar und kostspielig. Wie setzt man sie effektiv und effizient ein?
Voraussetzung dafür ist ein genaues Verständnis der Nutzer. Über welche Kanäle finden die Leute die App, wie kann ich sie so für das App-Erlebnis begeistern, dass sie sie installieren und dann regelmäßig nutzen? Personalisierung ist dabei ein wichtiger Schlüssel.
Die App muss für den Nutzer ein Problem lösen oder ihm einen Mehrwert bieten, einen sogenannten „Value Moment“. Dieser Mehrwert ist in der Regel dann gegeben, wenn der Nutzer eine bestimmte, wertschöpfende Aktion durchführt, wie zum Beispiel einen Kauf, ein Video ansehen, eine Quittung abgeben, Informationen teilen oder andere App-typische Aktionen, die zu einem Aha-Moment der Nutzer führen und ihnen zeigen, wie sie einen Mehrwert für sich generieren können. Chamath Palihapitiya von Facebook beschrieb diesen Value-Moment für Facebook als erreicht, wenn ein Benutzer „7 Freunde in 10 Tagen“ hinzugefügt hat [1]. Mit dieser sogenannten „North Star Metric“ konnte Facebook auf über eine Milliarde Nutzer anwachsen. Doch wie kann man eine solche Metrik identifizieren und alles zielgerichtet tun, um die eigene Strategie und Planung darauf auszurichten?
Auf Mehrwert und Benutzerfreundlichkeit kommt es an!
Am Anfang können sich die Betreiber und Entwickler einer neuen App meist nur auf ihr Bauchgefühl verlassen, wenn es darum geht, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Später können auch sogenannte User Labs hilfreich sein, um direktes qualitatives Feedback von einer kleinen, ausgewählten Gruppe von App-Nutzern in die App-Entwicklung einfließen zu lassen. Dieser Ansatz ist jedoch mittel- und langfristig zu ungenau, um auf Basis quantitativer Analysen wichtige Entscheidungen auf Basis des Verhaltens möglichst relevanter Nutzerzahlen treffen zu können. Produktanalysen können für jeden hilfreich sein, der seine App zielgerichtet und datengestützt entwickeln möchte.
Typische Fragen in der Produktanalyse sind:
- Wie viele monatlich aktive User (MAU) kann ich mit meiner App
erreichen? - Wie verhalten sich neue Nutzer im Vergleich zu Nutzern, die meine App schon länger nutzen?
- Soll ich aktuell mehr in die Weiterentwicklung der Android- oder iOS-App oder in die Website investieren?
- Welche Funktionen sollte ich jetzt priorisieren? Und welche Auswirkungen hatte die Einführung einer neuen Funktion auf meine verschiedenen Benutzer und Einnahmen?
- Was sind die Haupttreiber von In-App-Konversionen?
- Welche Informationen benötigt welcher Nutzer auf dem
Startbildschirm der App? - Sollte ich die App besser für ein bestimmtes Land lokalisieren?
- Wie wirken sich A/B-Tests und Personalisierung auf Benutzer
zusammen und im Laufe der Zeit aus? - Wie erreichen Nutzer bestimmte Ziele in meiner App und was könnte sie von diesem Weg ablenken?
- Ab wann sollte ich den Nutzer der App spätestens wieder kontaktieren, um ihn nicht als Nutzer oder Kunden zu verlieren?
Bereits in der Anfangsphase einer App kann die Einführung einer Produkt-Analytics-Lösung helfen, Entscheidungen mit Daten zu unterstützen und Entwicklungszeiten zu verkürzen, indem die Nutzer und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt werden. Wenn die App wächst, und damit der Bedarf an Daten und Integrationen, lohnt es sich, die richtigen Integrationen zu erstellen und Erkenntnisse aus der Produktanalyse mit anderen Lösungen und teamübergreifend zu teilen.
Der positive Nebeneffekt: Durch die kontinuierliche Erfolgskontrolle neuer Entwicklungen und Features werden positive und negative Ausreißer schnell identifiziert. So können Entwickler-Ressourcen gezielter eingesetzt und Erfolge schneller erzielt werden.
Integrierter Best-of-Breed-Lösungsstack als Voraussetzung
Für eine kundenzentrierte Optimierung und umfassende Analyse und Personalisierung ist die Voraussetzung ein integrierter Best-of-Breed-Lösungsstack. Moderne Datenstacks basieren heute auf einem zentralen, hoch skalierbaren Data Warehouse oder Data Lake in der Cloud. Dabei fließen Daten aus dem gesamten Unternehmen zusammen und können von den Business-Intelligence-Teams nach den jeweiligen Bedürfnissen der einzelnen Abteilungen ausgewertet werden. Aus Datensicht sollte hier die „Single Source of Truth“ liegen, um über alle Teams, Kanäle und Tools hinweg eine einheitliche, allgemein anerkannte Datenbasis zu schaffen.
Der Nachteil von Data Warehouses ist, dass mit zunehmender Datenmenge und Komplexität die Geschwindigkeit des Datenzugriffs für Echtzeitinteraktionen wie den personalisierten digitalen Kundendialog nicht ausreicht. Aus Sicht digitaler Marketing- und Vertriebsteams werden daher sogenannte Customer Data Plattformen (CDPs) immer wichtiger. Ihre Rolle ist das Sammeln, Abgleichen, Verarbeiten und Verteilen von First-Party-Echtzeitdaten von Benutzern an andere Lösungen im Datenstapel.
Die meisten CDPs verfügen von Natur aus über ein benutzer- und ereignisbasiertes Datenmodell und Schnittstellen zu einer Vielzahl von Lösungen, um Benutzer über verschiedene Kanäle hinweg anzusprechen. So können beispielsweise Engagement-Plattformen, A/B-Testing und Onsite-Personalisierungstools sowie E-Mails oder Lettershops angebunden werden (siehe Abb. 1). Automatisierte Prozesse zur personalisierten Nutzeransprache können über Orchestration Maps „designt“ und an die verschiedenen ausführenden Tools weitergegeben werden.
Abb. 1: Schematische Darstellung der Funktionsweise einer CDP
CDPs verfügen in der Regel auch über Analysemöglichkeiten. Deren Ziel ist es, die Datenqualität und Datennutzung sowie den Datenschutz zu überwachen und sicherzustellen. Was jedoch meist fehlt, ist die Analyse der Ursachen für ein bestimmtes Nutzerverhalten, die Benutzerfreundlichkeit und das Zusammenspiel der verschiedenen Maßnahmen und produktseitigen Änderungen der App.
Aufgrund des Datenmodells sind CDPs in der Regel in beide Richtungen mit Produkt-Analytics-Lösungen kompatibel. Dadurch können Anwender von Produkt-Analytics-Lösungen diese mithilfe einer CDP schneller implementieren und Signale wie Varianten aus A/B-Tests oder aus Kampagnen und Consent-Management zentral verwalten und übertragen. Umgekehrt kann die Produktanalyse dabei helfen, ganz bestimmte, rollierende Segmente oder Kohorten von Nutzern zu bilden. Diese Kohorten können dann zum besseren Targeting von der Produktanalyse an die CDP oder das DWH zurückgemeldet und von dort oder auch direkt an die jeweilige Engagement-Plattform übermittelt werden (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Moderne Echtzeit-Datenarchitektur für Kundendaten und Personalisierung
Ein mögliches Beispiel sind Nutzer, die aufgrund individueller Einstellungen ihres Betriebssystems oder Browsers in einem bestimmten Prozessschritt auf der Website hängen bleiben und die Website verlassen. Um diese Nutzer erneut zu aktivieren, reicht ein einfaches Retargeting nicht aus, da sie dann die gleichen Probleme an der gleichen Stelle hätten. Die Erkenntnisse aus der Produktanalyse können jedoch in zweierlei Hinsicht helfen: Einerseits hilft es oft herauszufinden, warum die Nutzer den Prozess an einer bestimmten Stelle verlassen, um das Problem zu lösen. Andererseits kann eine Kohorte aller betroffenen Nutzer über die CDP an andere Lösungen weitergegeben werden, sodass die betroffenen Nutzer bei ihrem nächsten Besuch mit einer anderen, zu ihren Einstellungen passenden Variante des Prozessschritts angesprochen werden.
Wer die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Personalisierungen, Tests oder Produktänderungen und deren Einfluss auf den Gesamterfolg seiner App verstehen möchte, kommt um eine Produktanalyse nicht herum.
Fazit: In-App-Personalisierung ist Pflicht
Die Eliminierung der sogenannten Third-Party-Cookies wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Wie die Expertin Dr. Jana Moser bereits 2019 in einem Interview feststellte, werden im Hinblick auf die DSGVO Nutzer-Log-ins für eine gezielte Ansprache und Personalisierung immer wichtiger [2]. Die Vorteile mobiler Apps liegen damit auf der Hand: Smartphones und meist Tablets werden in der Regel von nur einem Endnutzer genutzt, im Gegensatz zu mehreren Nutzern eines Desktop-PCs oder Laptops. Mobile Apps bieten Marketing- und Analytics-Verantwortlichen eine eindeutige Kennung auf Basis des jeweiligen Mobilgeräts, aber auch auf Basis der Mobile Identifier von Apple oder Google. Consent ist die Grundvoraussetzung für das Tracking. In den meisten Fällen akzeptieren die mobilen Nutzer auch einen Log-in zur Nutzung der App, wodurch auch die Zustimmung zur Nutzung der Daten abgefragt und gleichzeitig gespeichert werden kann.
Mobile Endgeräte beispielsweise bieten stationären Händlern zusätzliche Möglichkeiten wie das Einloggen ins eigene W-LAN, die Verwendung von QR-Codes, Hilfe bei der Suche nach dem jeweiligen Standort und vieles mehr. Diese Vorteile können jedoch nur von Unternehmen genutzt werden, die eine kritische Masse an App-Nutzern erreichen und ihre Apps einen entsprechend erkennbaren Mehrwert für die Nutzer bieten. Produktanalysen, Engagement-Plattformen und CDPs als Bausteine des Tech-Stacks können helfen, die Strategien und die Personalisierung umzusetzen. Sie ersetzen jedoch nicht die Strategie und Kompetenz der Mitarbeiter des Unternehmens.
Personalisierung ist wichtig bei der Akquise, Konversion, aber auch bei der Kundenbindung. Immer mehr Anbieter werden um Aufmerksamkeit und Interaktion mit den Nutzern auf dem kleinen Startbildschirm eines Smartphones konkurrieren. Im Backend machen Algorithmen und Analysen den Unterschied. Jüngere Nutzer sehen Bankfiliale und Scheckheft nicht mehr als die eigentlichen „Produkte“ ihrer Bank, sondern die App, mit der sie ihre Geldgeschäfte abwickeln. Reisende buchen, checken ein, geben Feedback und bezahlen meist auch über die Reise-App. Geschäftsprozesse am Fließband werden zunehmend digitalisiert und Mitarbeiter überwachen die Maschinen mit intelligenten Apps. Neue Medienanbieter erzielen globale Reichweite und Vermarktungsmöglichkeiten durch intelligente, personalisierte Apps. Wer wettbewerbsfähig bleiben will, sollte spätestens jetzt handeln.
Im Rahmen der Digitalkonferenz Kundendaten Trends 2023 moderiert Timo von Focht am 2. März einen Roundtable zum Thema "Mobile First - nur nicht in Deutschland. Interessierte können sie hier kostenlos anmelden.
Literatur
Informationszentrum-Mobilfunk.de (2021): Fakten und Trends zur mobilen Internetnutzung. – https://winformationszentrum-mobilfunk.de/artikel/ fakten-und-trends-zur-mobilen-internetfertigung – Zugriff 17.07.2022
AdAlliance (2021): Mobile 360° Studie – https://www.ad-alliancde/ download/3240447 – Zugriff 22.09.2022
de (2022): Anzahl der verfügbaren Apps im Google Play Store von April 2018 bis September 2022. – https://de.statista.com/statistics/data/
studie/74368/survey/number-of-the-available-apps-in-the-google-play-store/ –
Zugriff 17.07.2022
Summer, (o. J.): Google 2021: „Mobile-Only“ löst Mobile-First ab. Brandwerk. – https://www.brandwerk-digital.com/magazin/2021-mobile-only- loest-mobile-first-ab/ – Zugriff 17.07.2022
Palihapitiya, (o. J.): How we put Facebook on the path to 1 billion users. Genius. – https://genius .com /Chamath-palihapitiya-how-we-put-facebook-on- the-path-to-1-billion-users-annotated – Zugriff 17.07.2022
Interview Timo von Focht mit Jana Moser vom 11. Dezember 2019.
– https://www.commandersact.com/de/interview-mit-dr-jana-moser-digitales- marketing-im-zeitalter-von-dsgvo-und-eprivacy/ – Zugriff 28.08.2022