Katzentisch oder Kompass?
Es wird das Jahrzehnt des CMO, aber nur, wenn die Marketingverantwortlichen die Verantwortung für die Gestaltung des Systems „Unternehmen“ übernehmen.
Bullshit-Bingo
Wenn man Bullshit-Bingo spielen möchte, ist man aktuell im Marketing gut aufgehoben. Die Marke darf nicht nur für etwas wie Innovation, Qualität oder günstige Preise stehen, sondern muss auch noch einen „Purpose“ haben. Das ist an sich eine gute Idee, führt aber vor allem zu vollen Auftragsbüchern bei entsprechenden Beratungsagenturen. Kreativität ist zudem nur noch in begrenztem Maße gefragt, sondern es geht um Performance, um Daten und KPIs, neudeutsch den Return-on-Marketing-Spend. Wer sich nicht an den Bedürfnissen der Kunden ausrichtet, sondern gute Produkte bauen will, wird bald abgehängt sein. Ohnehin wird niemand mehr ernst genommen, der nicht agil und in Sprints mithilfe von Marketing-Technologien immer neue personalisierte Kampagnen orchestriert, natürlich in Echtzeit optimiert. Agenturen sind ein Auslaufmodell und der Aufbau interner Teams, die die Klaviatur des Programmatic Advertising und Real-Time-Biddings beherrschen, ist das Gebot der Stunde. Versteht zwar kaum jemand, wird einem aber an jeder Stelle suggeriert. Wessen Vergangenheit offline und TV oder Out-of-Home geprägt ist, wird es wahrscheinlich in dem ganzen Hype schwer haben, einen neuen Job zu finden.
Richtig oder falsch?
Soll man sich nun von diesen Trends und Entwicklungen abkoppeln? Ganz sicher nicht. Die Veränderungen der technologischen Möglichkeiten nehmen auf das Wettbewerberverhalten sowie die Kundenerwartungen Einfluss und können den Marktdruck massiv erhöhen. Andererseits, und das sind die guten Nachrichten, gibt es bei all den Verwerfungen auch eine Beständigkeit und diese betrifft das Kerngebiet eines CMOs – Marke, Kunde und Wirkung im Markt. Um mit Simon Sinek zu sprechen, das „Why“ bleibt immer noch das Gleiche, nur das „How“ und das „What“ können sich ändern. Es gibt vielfältige Profile eines CMOs. Vereinfacht gesagt gibt es auf der einen Seite die eher marken- und kundenorientierte Gruppe und auf der anderen Seite die Gruppe derer, die ihre Aktivitäten stärker auf die (kurzfristige) Wirkung am Markt ausrichten. Aber auch in der Vergangenheit war bei allen unterschiedlichen Ausprägungen die für das jeweilige Unternehmen passende Balance der drei Perspektiven der Erfolgsfaktor. Dies gilt auch für die Zukunft. Die Veränderungen für einen CMO finden sich an anderer Stelle. Dies wird anhand des „Double Diamond“-Modells dargestellt, das aus dem Design Thinking für das Marketing adaptiert wurde. Die oberen und unteren „Spitzen“ - das Narrativ, die Insight-Generierung, die Organisation und das technologische Setup - müssen vom CMO auf Anpassungsbedarf untersucht werden.
Eigene Darstellung in Anlehnung an das Double Diamond Diagram of Design Thinking
Systemdenken als Kernkompetenz eines CMOs
In Zukunft wird die Kenntnis und das Verständnis von Trends, Technologien und neuen Geschäftsmodellen für die Rolle des CMO lediglich ein Hygienefaktor sein. Die entscheidende Kompetenz ist die Evaluierung dieser Themen und deren individuell auf das jeweilige Unternehmen zugeschnittene Adaption. Es geht also nicht darum, alle Möglichkeiten aufzugreifen und umzusetzen, um die "Bullshit Bingo"-Karte zu füllen und damit eine gute persönliche Geschichte zu haben. Vielmehr gilt es, eine Auswahl zu treffen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine erfolgreiche Umsetzung der ausgewählten Maßnahmen begünstigen. Das „System“, das ein CMO dabei berücksichtigen muss, ist die eigene Organisation sowie deren Umwelt (Kunden, Partner, Wettbewerber) und die technologischen Chancen und Risiken.
Insights – Gestaltung der neuen Kohärenz von Informationen und Intuition
Die Entwicklung von Social Media, neueren Trends wie Eyetracking oder Neuromarketing können einem Unternehmen wertvolle Erkenntnisse liefern. Es gibt eine Vielzahl an zusätzlichen Informationen, die als Basis für die Entwicklung einer Marketingstrategie herangezogen werden können. Doch viele Daten und Möglichkeiten machen noch keine gute Strategie. Ein CMO ist nun weniger bei der Ableitung von Handlungsempfehlungen aus der Marktforschung gefragt, sondern muss entscheiden, welche neuen Lösungen einen Mehrwert für die konkrete Fragestellung und das Geschäftsmodell liefern. Zudem muss ein CMO die für das Unternehmen passende Verbindung der Perspektiven, Daten sowie Empathie für Markt und Kunden neu ausbalancieren.
Narrative – Fokus durch Ausschließen von Handlungsräumen
Ein CMO ist für die Story eines Unternehmens nach außen und oft auch nach innen verantwortlich. Das ist nicht neu. Aber eine Organisation und ihre Kunden brauchen aufgrund der zunehmenden Unsicherheit viel mehr Klarheit als früher. Dabei geht es nicht um hohle, nichtssagende Visions- und Missionspapiere, sondern um die Formulierung einer Ausrichtung, die das Ergebnis einer Entscheidung für, aber vor allem gegen etwas ist und einen Rahmen setzt, der konkret ist und Komplexität reduziert. Dies wird zu Reibungen führen, aber auch zur Profilierung der CMO. Ein Beispiel: Die Proklamation von „Customer Centricity“ als Eckpfeiler einer Unternehmensausrichtung ist trivial und ohne Aussagekraft. Damit kommt man zwar gut durch jede Vorstandspräsentation, aber es eröffnet keinen wirklichen Handlungsspielraum und fordert das System „Unternehmen“ nicht heraus, neue Lösungen zu entwickeln. Besser wäre es in diesem Beispiel, bestimmte Märkte oder Kundengruppen explizit auszuschließen. In der Folge kann sich die Organisation fokussieren.
Technologie – Neuorganisation von Partnerschaften und Netzwerken
Jeder CMO ist sich darüber im Klaren, dass das Marketing das Potenzial des Einsatzes von Marketing-Technologien ausschöpfen muss. Der Markt der Lösungen ist jedoch unübersichtlich, teilweise fragmentiert und basiert oft auf Versprechungen und Hoffnungen. Um hier sinnvolle Entscheidungen treffen zu können, muss ein CMO sein Netzwerk neu gestalten. Klassische Kommunikationsagenturen spielen hier eine untergeordnete Rolle oder richten sich gerade selbst (technologisch) neu aus. Es braucht externe Technologiepartner und intern eine integrierte Zusammenarbeit von Marketing und IT. Der CMO muss „sein“ System und die dazugehörigen Ressourcen und Partnerschaften neu denken.
Organisation – Veränderung der Ablauforganisation durch Anpassung der Regeln
Klassisch hierarchisch organisierte Unternehmen stehen unter einem enormen Druck, „agiler“ zu werden. Ein CMO muss diesem Druck standhalten. Die einzig entscheidenden Fragen sind, 1. an welcher Stelle ist die Dynamik des Marktes so hoch, dass die auf Effizienz getrimmte Marketing Operations überfordert ist. Dynamik in diesem Zusammenhang ist als die Menge an Überraschungen, meistens hervorgerufen durch Wettbewerber, zu verstehen. Und 2. Welche Anforderungen ergeben sich aus dem Einsatz von Marketingtechnologien an den Marketing-Prozess? Besteht hier Handlungsbedarf, ist dieser häufig nicht auf die Marketingorganisation beschränkt. Ein CMO muss dann neue Formen der Ablauforganisation im Gesamtkontext des Unternehmens forcieren. Dabei geht es dann weniger um den Einsatz agiler Methoden, sondern um die Veränderung des Gestaltungsrahmens des Gesamtsystems. Dazu gehören beispielsweise die das ganze Unternehmen betreffenden Entscheidungsprozessen, Zielsysteme oder Incentivprogramme. In diesen Fragen wird ein CMO aber nur gehört, wenn er als Wegweiser anerkannt ist und nicht am Katzentisch der Organisation sitzt.
Die Kräfte des Marktes in das Unternehmen zu lassen und gleichzeitig den Rahmen der Organisation so zu gestalten, dass sie diesen Kräften bestmöglich dienen kann, ist die Hauptaufgabe eines CMO. Das Talent des CMO, den Handlungsrahmen des Systems „Unternehmen“ in diesem Sinne zu beeinflussen, ist entscheidend für den Erfolg. Der CMO der Zukunft ist kein durch neue Trends und Themen Getriebener, sondern Gestalter der Organisationsprinzipien. Die einzige Messgröße für ihn ist die Wirkung im Markt.