Die nächste Marketing-Provokation: Print ist tot!? Es lebe das Mailing!
Text auf der Basis des Vortrags von Friedhelm Lammoth am Marketing-Forum Suisse Emex 11 – Fachmesse für Marketing – am 23. August 2011
Eigentlich könnten wir Werber uns ausnahmsweise einmal selbstzufrieden zurücklehnen. Denn zumindest in einem Punkt sind wir am Ziel: Noch nie zuvor haben die Menschen so viel kommuniziert. Zum ersten Mal erleben wir die Situation, dass Kommunikation Synonym für Marketing ist und Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation. Und wir spüren 24 Stunden am Tag, dass die Botschaften der Werbung unsere Lebenswelt in einem noch nie dagewesenen Masse berühren.
Nicht nur in New York und Hongkong, sondern auch in Zürich, Genf und Basel werden ganze Stadtteile in Werbeträger transformiert. Telefon, Internet, E-Mail, iPhone, iPad und Fernseher haben sich zum Nervensystem der modernen Welt entwickelt. Mit zunehmender Technisierung treten Kommunikations-Gesellschaften an die Stelle traditioneller Glaubensgemeinschaften. Netzwerke mutieren zu „,medialen Kollektivkörpern“, die Einzelne zu Informationsgesellschaften vereinen. Einseitige Information wird zunehmend durch digitale Interaktion abgelöst, bei der Konsumenten nicht mehr nur Empfänger, sondern auch Produzenten von Inhalten sind.
Um uns herum schmeckt alles nach Kommunikation. Und betroffen sind nicht nur die Welt des Konsums, sondern auch Kunst, Politik, Wissenschaft. Es gibt Verbraucher, die täglich 250 E-Mails und 50 Newsletter erhalten, auf Facebook ein paar hundert Freunde haben, in allen möglichen Adresslisten sind, 20 Kundenclubs angehören, 10 Zeitschriften abonniert haben und 50 Kataloge bekommen.
Auf den Strassen ist der Krieg der Klingeln ausgebrochen. Alle sind immer und überall erreichbar. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun sieht im Fernsehen ein Lusterlebnis im Akt der Vereinigung zwischen denen vor der Kamera und denen vor dem Fernseher. Und die Frage „Haben Sie eine Cumulus-Karte?“ wird in den Migros-Filialen schätzungsweise 500 Millionen mal im Jahr gestellt und dürfte damit der meistkommunizierte Satz in der Schweiz sein.
Manchmal hat man den Eindruck, als hätten wir bereits Punkt erreicht, den der amerikanische Futurologe Alvin Toffler 1970 mit seinem „Information Overload“ vorausgesehen hat und als würde im Marketing gerade die Soap „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ in immer schnelleren Intervallen ablaufen.
Während früher das Zuwenig unser Problem war, macht uns heute das Zuviel zu schaffen. Denn noch mehr kaufen, ausgeben, noch mehr lernen, kommunizieren, essen, trinken, wohnen, arbeiten, Spass haben geht fast nicht mehr. Und unsere Aufmerksamkeit wandelt sich immer mehr in ein Modell des zerstreuten Aufsaugens.
Denn überall gelten die Tendenz zur Reduktion und das Primat des Tempodroms: Schneller lesen, schneller schlafen, schneller duschen. Das Essen wird fast, die Liebe quick, der Mittagsschlaf nennt sich neuerdings Power napping. Die in Zeitnot geratene Gesellschaft macht Speed-Wellness und entspannt sich sogar im Schnellzugtempo.
Martin Mustermann mit einem durchschnittlichen Wortschatz von 8‘000 bis 10‘000 Wörtern sieht sich mit mehr als 60‘000 Marken und täglich 4’000 Werbeimpulsen konfrontiert. Und viele reagieren auf Medienvielfalt und Informationsflut mit Panik. Sehen selbst im Sommer so weinerlich aus als seien sie durch das Tragen langer Unterhosen gepeinigt. Und führen dauernd Selbstgespräche, weil sie wissen dass sie ihr Passwort nicht vergessen dürfen: TDG S4 Z5. Denn die neuen Technologien finden mindestens ebenso sehr in den Köpfen der Menschen und in der Kommunikationen zwischen ihnen statt, wie in den Produktionshallen der Fabriken. Und bedeuten für viele Unruhe, Unkalkulierbarkeit und Ungewissheit, weil die neuen Technologien mit ganz anderen Ereignistypen konfrontieren, als die alten.
Davon fühlt sich vielleicht nicht einmal die Mehrheit betroffen. Aber auch Minderheiten können Entwicklungen beeinflussen, wenn sie Beschleunigungswahn und permanenten Innovationsdruck nicht als Bereicherung empfinden. Wenn sie am Kiosk ratlos vor 55 verschiedenen Schokoriegeln stehen. Wenn sie sich bedrängt fühlen, weil Ihnen immer weniger Zeit für sich selbst bleibt. Wenn Sie Postschalter meiden, Tankstellen und Flughäfen, wo man ihnen auch noch etwas verkaufen möchte. Und wenn sie selbst die „Feldwerbung“ in den Äckern der Schweizer Bauern übersehen.
Nicht die Angebote werden knapp, sondern die Wünsche.
In Frankreich treffen sich bereits regelmässig Aktivisten und reissen Plakate in den Metrobahnhöfen herunter. In Wien wurde kürzlich ein ganzer Strassenzug gewaltsam von Leuchtreklamen befreit: „Delete“ heisst das Projekt und will erreichen, dass Werbung ganz aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Solche Tendenzen sind fatal, weil Werbung nicht von Reaktanz, sondern von Akzeptanz lebt. Ausserdem bestätigen sie ein gesellschaftliches Phänomen: die Menschen sind generell skeptischer geworden und glauben immer weniger. Nur noch 43 Prozent den Zeitungen. 27 Prozent dem Fernsehen. 10 Prozent dem Radio. Und noch weniger der Werbung. Und die zunehmende Masse an Werbung steigert nur ihre selektive Wirkung: Anzeigen werden überblättert. Telefonanrufe abgewürgt. TV-Spots weggezappt. E-Mails nicht geöffnet. Von den jährlich 50‘000 Produkt-Neueinführungen scheitern in der Schweiz 90 Prozent, also 45‘000. Denn in der Überfluss-Gesellschaft werden nicht die Angebote knapp, sondern die Wünsche.
Und man hat den Eindruck dass von den Ratschlägen der Werbung eigentlich nur noch die Amerikaner so richtig begeistert sind. Jedenfalls kaufen sie ihr Mineralwasser „cholesterolfree“ und achten darauf dass auch Hundefutter „light“ zu haben ist.
Bei uns sieht es eher so aus, als hätten die Wahrnehmungspsychologen mit ihrer Theorie der begrenzten Aufmerksamkeit recht: Aufmerksamkeit wirkt wie ein Flaschenhals für Informationen, die kognitiv weiterverarbeitet werden sollen. Kein Wunder, dass Werbung bei der lawinenartigen Informationsfülle einen schweren Stand hat. In Statistiken kann man nachlesen – dass TV-Spots 1970 noch von 50 Prozent erinnert wurden. Heute belegt die Marketingweek, dass die Werbeerinnerung gerade noch bei 8 Prozent liegt.
Und weil die Unternehmen im globalen Markt ein anderes Kostenbewusstsein entwickelt haben, werden Werbeausgaben genau so hinterfragt, wie Investitionen in Maschinen: Was ist produktiv? Was kontraproduktiv? Topmanager sprechen aus, was lange tabu war und stellen die Sinnfrage: Ist Werbung noch in der Lage, einen qualitativen Beitrag zu Absatz und Profit zu leisten? Können Werbeausgaben die Rentabilität des eingesetzten Kapitals noch maximieren? Müssen wir akzeptieren, dass Werbung eine Black-Box ist, weil sich der Kunde selbst mit Kernspintomografen nicht in die Karten sehen lässt und sowieso A sagt, wenn er B meint? Und wo soll das Marketing der Zukunft überhaupt ansetzen: Bei der Markenaura? Den Kunden? Bei neuen Zielgruppen? Oder liegt alles Heil in den Blogs und den sozialen Netzwerken, die seit zwei Jahren als Mantra über allem schweben, obwohl das mit den „connected people“ eigentlich nicht völlig neu ist:
Wir wissen von Freud, dass soziale Beziehungen die Voraussetzung unserer Individualität sind; Wir haben gelernt, dass schon die Höhlenmenschen Zugehörigkeit suchten; Und ein paar von uns erinnern sich noch, dass es einmal üblich war, neben der realen Identität ein virtuelles Leben mit Brieffreunden in London oder Paris zu führen.
Trotzdem ist das, was wir heute im Internet mit Facebook, Twitter & Co. erleben, der grösste Hype seit der Einführung des Fernsehens. Und die Schweizer scheinen die Pacemaker der Entwicklung zu sein. Als wollten sie der ganzen Welt beweisen, dass auch bei uns die alten Bilder nicht mehr stimmen: Die Stereotypen vom jodelnden Alm-Öhi, der mit der Linken die Tabakspfeife im bärtigen Gesicht hält während er mit der anderen bedächtig die meckernde Geiss am Bart krault
Herausgefunden hat das der Soziologe Robert Levine, der 31 Länder verglichen und bestätigt hat, dass das Tempo des Lebens in der Schweiz am höchsten ist, weil man hier nicht nur am schnellsten die Strassen überquert und Briefe zustellt, sondern auch Nullkommanichts E-Mails beantwortet und damit vor Irland, Japan und den weit abgeschlagenen Grossmächten USA und China rangiert.
Dazu passt, dass Facebook mit 2.5 Millionen Benutzern in der Schweiz die höchste Entwicklungsgeschwindigkeit hat. „In“ ist im Online-Casting nur, wer sich selbst inszeniert: Text hierhin, Foto dorthin – von da an erfährt man via Facebook, wer sich einen Tee macht und wer gerade den Zug verpasst hat.
Logisch, dass es im Sog des Hypes auch immer mehr Unternehmen in die Netzwerke zieht. Adidas kommt auf 3,2 Millionen Facebook-Fans, BMW auf 700.000, der italienische Haselnussbrotaufstrich Nutella hat sage und schreibe fünf Millionen Fans auf Facebook. Und bei McDonald‘s gibt es bereits einen HSM, einen „Head of Social Media“. Denn obwohl auf Facebook nichts verkauft wird, weil die Verlagerung von Social-Media zu Business-Media noch in den Startlöchern steckt, spekuliert man mit Reputation und Kundenbindung.
Alles geht: Vielfalt als die grosse Chance im Marketing.
Ist das die Zukunft? Forrester Research sagt Ja und prognostiziert eine Ära des sozialen Kontextes und Meta-Social-Networks, die in der Lage sind, die digitalen Identitäten ihrer Nutzer zu erkennen. Die Hirnforschung ist weniger optimistisch und warnt in der ZEIT vom 28. April 2011 davor, die Autonomie des Handelns aufzugeben und die Grenzen des Gehirns auszureizen. Weil es sonst passieren könnte, dass man die Post ins Kühlfach legt, die Butter in den Ofen stellt und die Müffelsocken in der Wohnzimmer- Vitrine zur Schau stellt. Denn auch der digitale Tag hat nur 24 Stunden. Und wenn der Mensch immer mehr kommuniziert, berührt er ständig seine geistige Kapazitätsgrenze und manövriert sich in einen Zustand, den die Psychologie „Ich-Erschöpfung“ nennt. Deshalb raten Wissenschaftler dazu, das Tempo zu drosseln: Wieder über die Qualität von Zeit zu diskutieren; Über Slowfood statt Fastfood; Schreiben mit dem Füllfederhalter; Über die Ruhe von Pergolagärten.
Wahrscheinlich muss das so sein, weil Trend und Gegentrend zur Logik des Fortschritts gehören. Nachzulesen bei Marshall McLuhan, der uns die Einsicht hinterlassen hat, dass mit jedem neuen Medium nicht nur neue Möglichkeiten in die Welt kommen, sondern auch alte Nutzungsformen wiederbelebt werden. Das spricht für die Koexistenz von Langsamkeit und Schnelligkeit, von Online und Offline und bestätigt die Erkenntnis, dass die Multioptionalität zum Normalfall geworden ist: Es gibt in Bezug auf Vertrieb, Marketing, Kommunikation kein Entwederoder mehr, sondern nur noch Sowohl-als-auch, was auch für die Medien gilt. Das Boulevard-Blatt BILD zum Beispiel ist mit täglich 2,9 Millionen verkauften Exemplaren die mit Abstand meistverkaufte Zeitung in Europa. Gleichzeitig bezahlen heute schon mehr als 100‘000 Menschen jeden Tag für ihre digitale Bild-Ausgabe auf mobilen Endgeräten. Und daneben werden auch die Zusatzgeschäfte weiter ausgebaut, indem man noch in diesem Jahr mit einer 20bändigen Bücherreihe über die Literaturnobelpreisträger an den Start geht.
Diese Vielfalt zieht sich überall durch und wird zur grossen Chance im Marketing. Selbst die klassische Werbung ist keineswegs tot, wird aber an Strahlkraft immer mehr verlieren und im Szenario totaler Interaktion nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Zum Leidwesen vieler Werber, die heute noch von der Zeit schwärmen, als ihre Schlagzeilen als geflügelte Worte in aller Munde waren. Man braucht nur an Anzeigen wie „Morgens Ovo – mittags unterwegs“ zu denken. An den Käfer, der lief und lief. Oder an Toni, das Joghurt im Glas.
Wo die klassische Werbung hinkommt, ist das Dialogmarketing längst da.
Skeptiker waren schon immer der Meinung waren, der Mensch hätte nie vom Baum klettern sollen. Diesen Pessimismus habe ich noch nie geteilt. Aber ich bin auch nicht so fortschrittsgläubig, dass ich mich bei Minus 190 Grad für 120‘000 Dollar auf Eis lege, um dem ewigen Leben entgegen zu frieren. Davon hält mich die Vorstellung ab, in 100 Jahren von Uriella wach geküsst zu werden und Beni Thurnheer, Dieter Bohlen und der FC Sion sind auch noch da.
Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass Marketing und Werbung Zukunft haben, weil sich Produkte auch in der virtuellen Welt nicht von allein verkaufen. Nur: Wenn man ein Feuer entfachen will, muss man auch künftig das Zündholz an der richtigen Stelle anlegen. Und die richtige Stelle – das ist auch bei den connected people die Ebene One-to-One. One-to-One ist die Konsequenz des Paradigmenwechsels von der passiven Einbahnstrassen-Werbung zur permanenten Interaktion. Ein Quantensprung des Denkens im Marketing, vergleichbar mit Galileo Galileis Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
Denn die alte Direktwerbung konnte nur auf einem Bein hüpfen, dem Mailingbein Heute ist der Dialog der Tausendfüssler im Marketing. Und es ist wie in der Geschichte vom Hasen mit dem Igel: Wo die klassische Werbung hinkommt, ist das Dialogmarketing längst da. In der Psychologie nennt man so gravierende Veränderungen „Conceptual Change“, weil sie alles auf den Kopf stellen. Insofern ist es kein Wunder, dass viele Unternehmen noch Zeit brauchen, bis sie sich an die 360-Grad-Zuständigkeit des Direktmarketing gewöhnt haben. Und einsehen, dass es nicht mehr reicht, sich auf das Datensammeln und das Personalisieren zu beschränken.
Sowohl-als-auch: Wo ein Trend ist, ist die Gegenströmung nicht weit
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Dieser Satz, den man ohne weiteres dem ehemaligen Weltfussballer Lothar Mathäus zuschreiben könnte, stammt von dem Physiker Werner Heisenberg. Und der hat ihn ironisch gemeint. Aber es stimmt: Das Problem mit der Zukunft ist, dass wir immer weniger Konstanten haben. Das Ende der Normalität hat begonnen, der Verlässlichkeit. Es gibt keinen Marktplatz des 21. Jahrhunderts, den man nur betreten muss und schon ist man drin.
Als der Zukunftsforscher John Naisbitt 1990 seine Megatrends 2000 veröffentlichte, hatte er zehn neue Strömungen im Visier. Heute edieren seriöse Institute ihre Prognosen im Monatstakt und mit viel geringerer Distanz zur Gegenwart. Hermetisch lineare Weltbilder lösen sich auf und das Paradox wird zur Maxime für die Lebensführung der nächsten 10 Jahre. Wo ein Trend ist, ist die Gegenströmung nicht weit. Das eine tun, das andere nicht lassen: Die Bewohner der Zürcher Goldküste fahren Aston Martin und Smart und kaufen sowohl bei Aldi und OBI – als auch im Kaviarcafe. Und die neuen Rahmenbedingungen heissen Flüchtigkeit und Instabilität. Atomausstieg, Griechenland-Bankrott, Kachelmann-Prozess, Steuerabkommen - ständig ist heute falsch, was gestern richtig war. Und umgekehrt. Selbst das Wort Zukunft ist dabei, seinen Ruf zu ruinieren. Denn die digitale Technik fördert keine neue Einheit, sondern die totale Zersplitterung. Die Atomisierung unserer Lebensumstände, die Auflösung der Medien und Marketinglandschaft.
Und ein zurück zum Start wie beim Monopoly ist ausgeschlossen: Die Welt hat den point of no return längst überschritten. Als Basisinnovation sprengt und verändert das Internet einfach alles. Vor allem Wirtschaft und Werbung.
Laut Bundesamt für Statistik gaben im Dezember letzten Jahres 93.4 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz an, das Internet innerhalb von 6 Monaten mindestens einmal benutzt zu haben. 77.4 Prozent bilden den engen Nutzerkreis, die das Internet täglich oder mehrmals pro Woche benutzen. Suchmaschinen sind laut social media Studie der Fachhochschule Münster vom Juni 2011 für rund 70 Prozent der Befragten vor einer Kaufentscheidung richtungweisend. Und für über 25 Millionen Nutzer ist Google der Startpunkt ins Web: Weltweit erfolgen acht von zehn Onlinesuchen über Google, in der Schweiz liegt die Zahl sogar noch höher. Schätzungen gehen davon aus, dass hierzulande mindestens 50 Prozent der Online-Werbegelder in Adwords fliessen. Google wirbt in der Schweiz unter anderem mit dem Onlineshop Flaschenpost, der nach eigenen Angaben aus jedem Adword-Werbefranken das Doppelte erlöst und mit 1000 Anzeigenvarianten und 500 Keywords die Kundenzahl jedes Jahr verdoppelt hat.
Den höchsten Zuwachs zwischen Status quo und Zukunftseinschätzung hat jedoch E-Mail-Marketing, das auf absehbare Zeit einer der wichtigsten Umsatztreiber im Online-Marketing bleiben wird. Vorausgesetzt, die Botschaften sind relevant und die Abonnenten werden nach der Anmeldung zum Newsletter nicht in den grossen Topf geworfen, sondern mit einer mehrstufigen Willkommensserie vom zum Kunden konvertiert. Und vorausgesetzt, man setzt keine Massenmails ein, sondern auf den Kundenlebenszyklus zugeschnittene Kampagnen.
Überdurchschnittliche Effizienz darf man vor allem von Transaktions- oder Triggermails erwarten, also durch Käufe, Nutzeranfragen sowie vergleichbare Aktivitäten angestossene und automatisiert versandte E-Mails. Aus der aktuellen Studie von Experian Marketing geht hervor, dass Kunden Transaktionsmails zum Teil sogar mehrfach öffnen. Die Öffnungsrate von Bestellbestätigungen ist bis zu 8 Mal höher als bei Massenmails, die Klickrate liegt im Schnitt um das 4-fache höher und beim Umsatz schlagen Transaktionsmails normale E-Mails um das Fünffache.
Obwohl erst 47 Prozent der Unternehmen Transaktions-bzw. Trigger-Mails einsetzen, sprechen wir hier von einer zukunftsweisende Spielart des Dialog-Marketing, zumal der Empfänger im Zentrum der übermittelten Botschaft steht: Er erhält zum richtigen Zeitpunkt eine individuelle, durchgehend personalisierte Information, die für ihn von hoher Relevanz ist; Der Mailinhalt hat immer einen Bezug zum aktuellen Nutzerstatus; Und der Kunde wird „just in time“ angesprochen, weil der Zeitpunkt des Kontakts direkt von einem vergangenen oder zukünftigen Anlass oder nach Eintreten einer Ereigniskette ab.
Was Facebook, Twitter, Xing & Co. betrifft, hat das Marktforschungsinstitut Gartner kürzlich über erste Ermüdungserscheinungen bei Facebook-Nutzern in den Kernmärkten informiert. Aber das wird nicht viel daran ändern, dass die Sozialen Netzwerke weiter viel Traffic bringen und als Aktivierungspunkte wichtig bleiben. Allerdings gibt es noch ein „aber“: der Traffic ist lange nicht so zielgerichtet, wie der über Suchmaschinen generierte Share-of-voice. Auf Facebook ist die Bounce-Rate sogar am grössten. Und das heisst: Ein Link wird einfach angeklickt, kurz die Website besucht – und dann gleich wieder verlassen.
Was Marketer auch bedenken sollten: Werbung in Sozialen Netzwerken ist lange nicht so conversionorientiert, wie etwa Google Adwords und zielt mehr auf Branding und Awareness ab. Hinzu kommt, dass die Werbewirkung nur schwer messbar ist. Denn Social Media ist kein geschlossener Bereich, sondern zieht sich quer und kanalübergreifend durch verschiedene Bereiche.
Wenn ein hocheffizientes Dialoginstrument noch ein Nischendasein führt, dann Online-PR. Allerdings völlig zu Unrecht. Denn die wenigsten wissen, dass selbst Google, Starbucks & Co. ihre Marken keineswegs mit klassischer Werbung aufgebaut haben, sondern mit Storytelling und interaktiven PR-Kampagnen im Internet. Damit gehören die Hochglanz-Pressemappen der Vergangenheit an. Sie werden ersetzt durch interaktive Medienmitteilungen, die sich nicht nur an Journalisten richtet, sondern an die Öffentlichkeit. Und damit über Presseportale, News Portale, Networks etc. eine Reichweite und zählbares Business erwirtschaften, von der die traditionelle PR früher nur träumen konnte.
Kein Wunder, dass bei diesen Perspektiven immer mehr Unternehmen ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb mit der Online-Welt verbinden. Die Begeisterung ist verständlich. Aber die Sichtweise einseitig, weil es sich dabei um ein quantenoptisches Phänomen handelt: den Tunnelblick. Die Begrenzung des Gesichtsfeldes durch eine eingeschränkte Wahrnehmung. Dieses Wahrnehmungs-Defizit registriert man heute nicht nur bei Markenartiklern, die beim Thema Social-Media in eine Art elysische Verzückung verfallen, während sie sich vor kurzem ausschliesslich im Glanz von TV-Spots und Panoramaanzeigen sonnten.
Das digitale Virus hat auch gestandene Direktwerber befallen, Vögele-Jünger, die ein Leben lang auf Katalog und Mailing fixiert waren. Aber selbst diese Dinos sind heute so tief in die virale Welt eingetaucht, dass viele von ihnen Phantomschmerzen empfinden, wenn sie einmal offline sind. Wenn Unternehmen oder Agenturen im Marketing nur noch Leute mit Social-Media-Knowhow einstellen, ist das ähnlich überzogen, wie wenn der Sanitär aus Appenzell Innerrhoden eine mehrsprachige Homepage mit Shop ins Netz stellt, damit auch die Feuerland-Indianer bei ihm Toilettendeckel in Suisse Norm bestellen können. Viele vergessen vor lauter Euphorie, dass auch die neue Welt sowohl eine Online-, als auch eine Offline-Hemisphäre hat und dass es keine Kluft zwischen Digitalem Immigrant und Digitalem Exilant geben darf. Denn wenn das Zürcher Tonhallen-Orchester Franz Schubert spielt, käme auch kein Mensch auf die Idee, seine Klaviersonaten nur mit weissen oder ausschliesslich mit schwarzen Tasten zu spielen.
Im Klartext bedeutet das, dass wir nicht nur den virtuellen Optionen weiter auf den Fersen bleiben, sondern auch die klassischen Dialog Tools wieder nutzen müssen, wenn wir den Kunden nicht aus den Augen verlieren wollen. Nicht nur, weil das Internet nie nach frischem Kaffee riechen und keinem Menschen kleine Geschenke in die Hand drücken kann, sondern auch, weil zwei Dinge absehbar sind. Erstens: Dass wir erst mit 32 Prozent digitalen Souveränen zu tun haben, also den Trendnutzern und Profis. 60 Prozent der Internetnutzer sind laut aktuellen Zahlen von TNS Emnid immer noch digitale Aussenseiter und Gelegenheitsnutzer. Zweitens, dass die Disziplinierungs-Ideologie der Politik, die weniger von Bern als von Berlin und Brüssel aus die Angst schürt und das Sicherheitsbedürfnis dreist bedient, die Wachstumsdynamik der Online-Medien per Gesetz abbremsen wird. Drittens, dass die traditionellen Tools automatisch attraktiver werden, sobald Online-Werbung teurer wird.
Multichannel als strategischer Ansatz, die Menschen auf verschiedenen Wegen zu erreichen
Das heisst nicht, dass nach dem technologischen Fortschritt jetzt schon wieder der nächste Rückschritt vor der Tür steht. Mir geht es nur um Argumente, warum intelligente Multi-Channel-Kommunikation E-Mail, Telefon, Social-Media und Print parallel nutzt und sich der jeweiligen Stärken bedient. Denn im New Marketing können wir uns keine Glaubenskriege leisten, sondern sind dem Pragmatismus verpflichtet. Und das bedeutet - egal wie das Internet Werbung und Kommunikation verändert: Multichannel ist der strategische Ansatz, die Menschen auf mehreren verschiedenen Wegen zu erreichen und die konsequente Fortsetzung der Nutzung unterschiedlicher Werbekanäle in Form von Bereitstellung verschiedener Kommunikations- und Vertriebswege.
Unter diesem Aspekt wird das Telefon auch in Zukunft seine Stärke ausspielen, den direkten Zugang zum dem Kunden zu ermöglichen. Der Weg zum Markt via Telefon ist kurz, schnell und flexibel. Und der Dialog am Telefon funktioniert. Ich meine hier weniger die Telekommunikationsanbieter, Verlage und Weinversender, die mit Anrufen zum falschen Zeitpunkt nicht zimperlich sind. Sondern ich meine zum Beispiel Europas grösste Direktbank, die Ing DiBa. Dibadibadu – die Erkennungsmelodie im TVSpot mit Basketballer Dirk Nowitzki hat praktisch jeder schon einmal gehört. Und die Erfolgsstory der DiBa ist ein Beleg für die Effizienz des Telefons im Direktmarketing. Denn die DiBa hat weder Niederlassungen noch Schalterhallen, sondern operiert vorwiegend per Telefon. Die Mitarbeiter werden nach ihrer Telefonstimme ausgesucht. Und nach Anfragen rufen DiBa-Mitarbeiter regelmässig zurück und fragen, ob alles geklappt hat oder ob der Kunde noch etwas braucht.
Was auch auf den Radar der Unternehmen gehört, ist Mobile Marketing. Denn laut Studie „New Shopper Journey“ von Microsoft Advertising/Carat vom Februar 2011 konsultieren 24 Prozent der Befragten während des Einkaufs ihr Handy - vor allem zum Preisvergleich. Und die wachsende Verbreitung von Smartphones trägt dazu bei, dass das Internet den Konsumenten praktisch bis zum Bezahlvorgang begleitet. Und es wird erwartet, dass im Jahr 2014 mindestens 39 Prozent aller Benutzer mobiler Endgeräte im Internet surfen und damit eine ähnliche Wachstumskurve auslösen werden, wie sie auch beim Internet-Zugang mit Computern zu beobachten war
Das Mailing als Unterschied zwischen Standard und spürbarer Wertschätzung
Aber auch Print wird nicht vom Radar verschwinden, sondern seine wichtige Funktion als Kundenbindungstool behalten. Und wenn ich Print sage, meine ich die gesamte Bandbreite dialogfähiger Medien und Werbemittel von der Couponanzeigen und Beilage in Zeitungen und Zeitschriften über unadressierte und teiladressierte Streuprospekte bis zu personalisierten Postkarten, Mailings und Katalogen.
In einer Umfrage von TNS Emnid war kürzlich zu lesen, dass 36 Prozent der Werbungtreibenden in Deutschland davon überzeugt sind, dass die Bedeutung des Werbebriefs nicht ab, sondern zunimmt. Das ist trotz Internet gar nicht so abwegig. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass sich das Mailing als Alternative – wenn nicht sogar als Gegenpol zum öffentlichen Austausch der sozialen Netzwerke - positioniert. Als Unterschied zwischen standardisiertem Kundenkontakt und spürbarer Wertschätzung. Denn wenn Enrique Dans von der IE Business School recht hat, steuern wir auf ein System der geteilten Aufmerksamkeit zu. Und das bedeutet auf der einen Seite einen Konsumtypus, der sich mit mundgerechten Informations-Snacks begnügt, die auf ein T-Shirt passen. Und auf der anderen Seite Verbraucher, die mehr Zeit aufwenden, bewusster aufnehmen und selbst für Werbung ein längeres Intervall zur Verfügung haben.
Ich teile auch die Ansicht, dass alle, die jetzt den Offline-Dialog vernachlässigen, bald feststellen, dass sie ihre Kunden nicht mehr binden und schon gar nicht mehr begeistern, sondern nur noch bedrängen oder be-spassen können. Kein anderes Meum ist besser dafür geeignet, intensive Bezugssysteme herzustellen, um ergänzend zur schnellen Flüchtigkeit der Online-Medien über den Kauf hinaus möglichst langfristige Interessengemeinschaften zwischen Anbieter und Kunde zu schaffen. Denn im Gegensatz zum öffentlichen Austausch wie er in den Communities stattfindet, ist die Unter-vier-Augen-Kommunikationsebene des Mailings eine seiner grössten Stärken.
Und wenn es wirklich so sein sollte, dass wir in Zukunft weniger physische Post bekommen, weil immer mehr Regelkommunikation wie Rechnungen und Kontoauszüge ins Internet abwandern – eine Krankenkasse wie die CSS verschickt immer noch jährlich 14 Millionen Rechnungen per Post - wird das Brief und Mailing qualitativ nur noch mehr aufwerten und erst recht zum Premium-Werbemittel machen. Vor allem bei Hochpreisprodukten. Und im Bereich BtoB. Denn hier kommt es noch mehr auf hochwertige Inhalte an, als auf Funktionalitäten. Weniger auf Geschwindigkeit, als auf Exklusivität: Nicht schneller wissen, sondern intensiver erleben. Über Haptik, Inspiration und die Emotion guter Geschichten. Denn Kunden kaufen immer weniger „solutions to a problem“ – aber immer mehr „good feeling“. Und bezahlen für Emotionen mehr, als für Rabattangebote. Denn Im warmen Licht der Begeisterung verblasst der Preis. Für durch und durch gute Gefühle sind Menschen bereit, tiefer in die Tasche zu greifen: also auch Preisschmerz hinzunehmen und ein Preis-Premium zu zahlen.
Man braucht nur an exklusive Uhren zu denken, an schnelle Autos, an die Spendierfreude in den Ferien oder den Hauch von Nichts im Wäschegeschäft. Oder an die Prachtbauten der Banken und die Ausstattung der Chefbüros. All das zeigt: Gute Gefühle spielen sowohl im Consumer-Bereich, als auch auf Business-Ebene eine grosse Rolle. Selbst die LOHAS-Anhänger stehen für ein oszillierendes Trendverständnis, weil sie das Leben nicht mehr auf ein einziges Ideal ausrichten, wie es früher die Ökos getan haben, sondern weil sie verschiedene lebensweltliche Aspekte und Pole miteinander verbinden: Luxus und Umweltschutz, Sparsamkeit und Leistung lauten die dualen Devisen.
Hybride Werbeformen verzahnen Werbebrief mit Internet, Online mit Offline
Es ist und bleibt ein qualitativer Unterschied, ob ich eine Einladung zur Vernissage zwischen einem Viagra-Mail und dem Newsletter eines Fitness-Studios erhalte oder per Post auf Büttenpapier. Es hat eine andere emotionale Qualität wenn mir das SOS-Kinderdorf einen Brief meines Patenkindes Nkulikiyanka aus Ruanda mit Fotos von ihrem ersten Tag an der Sekundarschule weiterleitet, als wenn ich das auf der Homepage suchen muss.
Wir müssen uns auch von der Einschränkung verabschieden, dass Mailings in erster Linie dazu da sind, Käufe zu generieren und Cross- und Up-Selling zu realisieren. Das Mailing der Zukunft wird mehr sein als ein Response-Generator. Seine entscheidende Kraft wird im Sowohl-als-auch bestehen: Sowohl mit emotionaler Hebelwirkung und kreativen Zugängen Verhalten auszulösen, als auch gleichzeitig auch Image zu bilden.
Viele Anwender wissen, wie positiv Kunden reagieren, wenn man einmal eine Danke-Aktion per Postkarte oder Brief lanciert. Eine Aktion bei der man ausnahmsweise einmal nichts verkauft sondern dem Kunden nur für seine Treue dankt.
Und was es auch noch geben wird: Nicht nur die üblichen Solo-Auftritte – sondern auch Co-Mailings, bei denen Marken und Unternehmen kommunikative Beziehungen eingehen. Das ist in der klassischen Werbung schon lange üblich und macht Sinn, weil Co-Mailings Kosten und Nutzen optimieren, indem unterschiedliche Soll-Positionen und Kompetenzen genutzt werden.
Etwas versprechen darf man sich auch von der Entwicklung hybrider Werbeformen, die Mailing und Internet, On- und Offline verzahnen: Augmented Reality kann mithilfe eines iPhones oder Androidphones und einer kostenlosen App gedrucktes Papier zum Leben erwecken. Man startet die Anwendung, hält die Handykamera über die markierten Seiten – und Heftinhalte in geraten in Bewegung und erwachen zum Leben.
Und für viele heisst das Zauberwort heute schon PURL – Personal Url, die der Kunde per Postkarte oder Brief erhält – www.//Musterfirma/Max Muster.ch, die ihn auf eine durchgehend personalisierte, interaktive Homepage mit Rückmeldung an den Verkäufer führt. Beim PURL-Marketing startet der Online-Dialog, sobald die PURL vollständig in die Adresszeile des Browsers eingetippt wird. Und hohe zweistellige Visiter-Zahlen im Bereich von 30 Prozent werden nicht nur von Unternehmen wie Vitacost aus den USA gemeldet, sondern auch von Anwendern in Europa.
So gesehen hat selbst der tot geglaubte Massenversand noch viel Zukunft. Vorausgesetzt, man setzt Mailings als Verbindungsglied zur Onlinewelt ein. Vielleicht liegt hier sogar der Schlüssel zu einer ökonomischen Maximierung der One-to-One-Fokussierung. Denn Werbung wird besonders effizient, wenn sie sich verselbstständigt und dem One-to-Some Prinzip der Nachrichtenverbreitung folgt. Und die Inszenierung eines Schwarms zeigt erst, welches Potenzial in den Menschen, der Branche, den Medien und dem Markt steckt.
Man braucht nur an Facebook zu denken, aber auch an Amazon, an Street Parades, volle Lokale, volle Fussballstadien und volle Fanzonen. All das belegt, dass nicht nur Bienen, Zugvögel und Fische, sondern auch Menschen in Schwärmen denken und sich Schwarmtrends anschliessen können. Und jetzt nimmt man hunderttausend Hundebesitzer. Zunächst ist das nur eine statistische Grösse. Aber hunderttausend Hundebesitzer per Mailing auf die Homepage des Futterherstellers dirigiert, eingeloggt und mit dem Callcenter verknüpft – so könnten interaktive Marktplätze in Zukunft funktionieren.
Tue nichts, was es schon gibt: Mailings müssen immer wieder neu erfunden werden
Als einer von drei Initiatoren des Schweizer Direktmarketingpreises gehöre ich zu den Fans der Kampagneros, die nicht nur mit den Flügeln schlagen, sondern wenigstens einmal im Jahr richtig abheben, wenn es Gold, Silber und Bronce zu gewinnen gibt.
Denn wenn es den Schweizer Direktmarketingpreis nicht gäbe, wäre unser Job ein anonymes Geschäft. Jeder müsste glauben, dass alle nur mit Wasser kochen. Kein Mensch wüsste, dass immer ein paar dabei sind, die Weihwasser nehmen. Und der permanente Nobody-Status gäbe keine Nahrung für Neid und Missgunst, die angeblich auch in der Schweiz die höchste Form der Anerkennung darstellen.
Aber eine Sache irritiert mich: Ich habe noch nie in meinem Leben selbst so ein Gold- oder Silber-Mailing in meinem Briefkasten gehabt und kenne die Siegerkampagnen nur aus der Vitrine oder vom Foto. Da macht man sich natürlich so seine Gedanken. Zuerst habe ich gedacht, es hängt damit zusammen, dass ich in St. Gallen wohne - also von Zürich aus gesehen kurz vor dem Ural. Dann habe ich überlegt, ob ich vielleicht zu wenig verdiene. Aber den Verdacht werde ich sowieso mein ganzes Leben nicht los. Bliebe also noch der Bildungsabschluss. Und das ist bei mir ein ganz heikler Punkt. Denn ich habe bis heute nicht den Mut aufgebracht, meiner Mutter zu gestehen, dass ich es noch nicht einmal zum Magister gebracht habe, weil ich im Direktmarketing gelandet bin.
Aber auch wenn man in St. Gallen wohnt, zu wenig verdient und keinen akademischen Abschluss hat, bekommt man Mailings. In meinem Fall für eine Automarke, die ich seit vielen Jahren nicht mehr fahre. Zuerst habe ich das ja positiv gesehen und mich gefreut, was der Händler für eine treue Seele ist. Aber mit den Jahren habe ich mich doch gefragt, ob die mich überhaupt noch kennen oder ob sie mich aus den Augen verloren haben. Denn sonst würden sie mir doch keinen Standardbrief schicken, sondern mich individuell ansprechen. Etwas so:
„Herr Lammoth, wir wissen: Als Sie noch einen Citroen fuhren, war Citroen noch eine Philosophie, ein kleines Glaubensbekenntnis...“
So etwas würde ich garantiert lesen – und mich irgendwie immer noch zur Citroen-Familie zugehörig fühlen. Denn Autos vergisst man. Emotionale Schaukelerlebnisse in einem Citroen XM nie. Und es heisst ja: man muss seine Kunden nicht beim Produkt, sondern bei Ihren besten Gefühlen packen.
Aber wenn Sie jetzt glauben, die anderen Automobilmarken würden um so mehr um mich buhlen: Fehlanzeige. Mich ignoriert sogar der Händler – bei dem ich schon zwei Neuwagen gekauft habe. Er jagt lieber den Gelegenheitskäufer und verhält sich damit so wie jemand, der im Rotlichtviertel vom Zürcher Kreis 4 eine feste Beziehung sucht. Erschüttert ist auch mein Glaube an CRM-Systeme, seit ich bei einer Baumschule am Bodensee Zwergpflanzen für meine Dachterrasse bestellt habe und von da an Kataloge für Elektro-Rasenmäher, Mails für Maulwurfsfallen und Flyer für eine Anti-Hunde-Pflanze erhalte. Botanische Bezeichnung: Coleus canina. Deutscher Name: „Verpiss Dich“. Und ein Onkel von mir hat sich beklagt, weil er kürzlich einen Brief von den Anishinabe-Indianern erhalten hat, die ihn um etwas Geld baten. Dabei lebt er in der Romandie, spricht kaum deutsch und hat noch nie im Leben von den Anishinabe- Indianern gehört.
Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Bei 10 Einkaufserlebnissen und Angeboten sind 4 davon sehr negativ, 4 durchschnittlich und höchstens 2 positiv. Aber es ist tröstlich, dass es wenigstens ein paar Unternehmen gibt, die ihr Geschäft aus Kundensicht betrachten. Trotzdem fragt man sich natürlich: Warum ist etwas so Selbstverständliches wie Kundenorientierung so schwer umzusetzen?
Vermutlich ist zu starkes betriebsinternes Denken eine der Ursachen. Unternehmer und Mitarbeiter stellen nur ihre eigenen Produkte und Probleme in den Vordergrund, aber nicht das Kundenbedürfnis. Produktentwickler haben in vielen Unternehmen keinen direkten Kundenkontakt mehr und kennen dadurch die Kundenwünsche und Probleme nur unzulänglich. Und im Management scheinen immer mehr Schreibtischtäter die Fäden zu ziehen, die wenig Beziehung zum wirklichen Leben haben und deren Kontakt zur Aussenwelt sich auf den Umgang mit dem französischen Kellner im Gourmet-Lokal beschränkt.
Make the customer WOW – zündende Funken als Glücksgefühl weitergeben.
Werbung ist nicht nur ein Job, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Und aus der können wir uns nicht entlassen weil die Summe unseres Handels Wellen erzeugt und Menschen beeinflusst. Werbung muss gute Gefühle vermitteln. Keinen Geiz. Keinen Neid. Keine Trübsal. Wir müssen den Menschen Lust machen und Leidenschaften wecken und die Werber ermuntern und wieder das Lachen zulassen. Vorzugsweise in ganzen Sätzen und mit guten Geschichten. Und nicht in den Appetithäppchen der virtuellen Welt, wo viele sich so cool verständigen, als könnten sie zwischen den Abkürzungen auch noch Eiswürfel spucken.
„Make the customer WOW“ sagen die Amerikaner. Und meinen damit, dass Werber in der Lage sein müssen, ihre Leser mit starken Texten zu faszinieren. Denn die Identität einer Marke entsteht in der Zuneigung der Menschen zur Summe aller Geschichten, die eine Marke oder ein Unternehmen über sich erzählen.
Man muss in einem früheren Leben nicht selbst ein Schwein gewesen sein, um über Schnitzel schreiben zu können. Aber man muss in der Lage sein, mit einem Mailing Begeisterung zu entfachen. Den Funken zu schlagen, der von Mensch zu Mensch fliegen und als Glücksgefühl aufgenommen werden soll. Und mit einer Story fesseln – die nicht mehr loslässt – bevor sie zu Ende gelesen ist. Denn der Dialog ist eine Inszenierung. Er muss zum Staunen bringen, in Versuchung führen Interaktion auslösen mobilisieren, das schaffen, woran der Leser vielleicht Sekunden vorher nicht mal im Traum gedacht hat.
Gerade wenn es im Marketing weder Konstanten noch Leitplanken gibt, wird der Glücksbegriff wieder Grundlage für erfolgreiche Geschäfte, für Timing, für Chancen, für Verantwortung und für Stimmungen. Auch auf die Gefahr hin, dass der Schein manchmal zum Sein mutiert. Aber mit der Chance dass das tausendfach reproduzierte Klischee vom Glück beim tausendundeinsten Mal Wirklichkeit wird.
Die Mailings der Zukunft müssen deshalb neue Ideen verfolgen, gegen den Strom schwimmen, unkonventionell auftreten, einzigartiger sein, spielerischer, kreativer, müssen einen höchstmöglichen Grad an Interaktion anstreben – und die Brand Storys, die Heldengeschichten aufgreifen, die uns früher die klassische Werbung erzählt hat. Stellen Sie sich vor, was alles in einem Briefumschlag stecken könnte: Mailings für ein italienisches Kochbuch könnten nach frischem Oregano riechen. Electronic speech systems können sprechende Mailings ermöglichen. Mailings könnten sich automatisch öffnen und sich selbst vorlesen. Und Einladungen zu einer Modenschau könnten sich wie Seide anfühlen und wie Chiffon rascheln.
Kunden wollen nicht die totale Kommunikation. Sie wollen eine, die genau ihren Stimmungslage und ihren Bedürfnissen entspricht. Das meint sinngemäss auch der amerikanische DM-Berater Ray Considine mit dem Hinweis in einem seiner Kundenbriefe: „In this age of electro-correspondence, amidst avalanches of E-mail, it’s interisting that some few out-ofthe-box-thinklers send (are you ready?) handwritten notes! That really gets your attention these days ...“
Tue nichts, was es schon gibt – diesen Satz müssen die Unternehmen schnellstens verinnerlichen. Denn 90 Prozent aller Kampagnen werden immer noch nach einem halben Dutzend kreativer Raster gestrickt – entstehen also nach Schema F. Das kann nicht mehr funktionieren, wenn Inhalte wie Lawinen von überall auf alle einströmen und sich der Kunde immer unberechenbarer verhält. In diesem Szenario informeller Hypertrophie wird Kreation zum Kampf um Aufmerksamkeit. Deshalb kann es nur einen Trend geben: Den Trend, mit Trends zu brechen. Denn wenn alles Zack macht, muss man selbst Zick machen. Nur wenn Kreation in Zukunft gegen etablierte Formen der Werbung verstösst, Regeln bricht, sich weiterentwickelt und neue Wege einschlägt, kann Werbung noch einen qualitativen Beitrag zu Absatz und Profit leisten.
Dazu brauchen wir Auftraggeber, die auch einmal gegen das 11. Gebot verstossen: Du sollst kein Risiko eingehen. Die nicht mit aufkeimenden Ideen umgehen, wie Spargelbauern mit den Spargeln: Wer den Kopf reckt – kriegt das Messer an den Hals. Und eine neue Generation von Kreativen, denen Visionen wichtiger sind als Provisionen. Nicht mehr die Phrasenmäher mit Slogans wie „Come in and find out“ für Douglas Kosmetik was 68 Prozent in der Schweiz mit „Komm herein und finde wieder heraus“ übersetzt haben. Oder dem „Drive alive“, mit dem Mitshubishi selbst Sprachwissenschaftler hoffnungslos überfordert hat. Es sei denn „Fahre lebend“ war von vornherein nur als Provokation für Zombies gedacht.
Wenn 90 Prozent aller Produktinnovationen scheitern
und nur noch ein Bruchteil der Werbung
erinnert wird, müssen die Unternehmen ihre Distanz
zum Kunden drastisch verkürzen, indem sie
ihn nicht nur bei der Produktentwicklung, sondern
auch bei der Planung von Werbemassnahmen aktiv
mit einbeziehen. Denn in Zukunft reicht nicht mehr
das „trickle down“, das von oben auf den Kunden
herabtröpfelt. Nur mit einem innovativen Trickle-up-
Ansatz, bei dem kreative inputs auch von unten nach
oben, von der Strasse in die Unternehmen wandern,
werden aus Ideen Botschaften, die der Kunde wirklich
haben will und aufnimmt.
Wir haben nie Marketing gemacht. Wir haben immer nur unsere Kunden geliebt.
Früher hiess es, als Kreativer müsse man den „helicopter overview“ haben. Falsch. Als Werber muss man nicht nachts über das Emmental flattern. Aber das können, was ich von meinem Bäcker zu Hause erwarte: Nämlich exzellentes Brot backen. Und die Menschen davon überzeugen dass Werbung Leidenschaft und keine Nebenbeschäftigung ist. An Optionen wird es uns in Zukunft nicht fehlen. Denn nicht das Zuwenig, sondern das Zuviel ist unser Problem. Deshalb sollten wir nicht den Fehler machen, uns zu sehr auf die Medien und auf die Produkte zu konzentrieren und zu wenig auf den Kunden und den Mehrwert des Drumherum. Und wahrscheinlich sollten wir uns auch mehr an das chinesische Sprichwort halten, dass nur der einen Laden eröffnen sollte, der ein freundliches Gesicht hat.
Denn es ist ein Trugschluss zu glauben, Kundenorientierung hätte in erster Linie mit Marketing und Werbung zu tun. Kundenorientierung ist vor allem eine Sache der Dienstleistungsqualität. Dienen und Leisten - und das ohne Ladenschlusszeiten Denn sonst besteht die Gefahr – dass wir den Kunden aus den Augen verlieren zumal er immer mehr zum Do-it-Yourself-Verbraucher wird: Druckt sich seine Bordkarten selbst aus. Entwirft seine Briefmarken von eigener Hand. Muss die Gebrauchsanweisung für sein Handy im Internet herunterladen. Und bei Beschwerden die Hotline anrufen und für jede Minute bezahlen.
Man kann in Frage stellen, ob für die Leute ihre personalisierte Zeitung wirklich so lebenswichtig ist. Oder die eigene, individuell gebraute Biersorte. Vielleicht werden wir gar nicht so viel Private Products wie erwartet brauchen, weil der Einzelne als Zeichen seiner Individualität doch lieber seine Zugehörigkeit zu den Communities von Diesel und BOSS zeigt, als die Eigenmarke Markus Möglich zu tragen. Aber was die Menschen wirklich brauchen, sind Bedienungsanleitungen, die ihnen genau erklären, wie sie einen DVD-Recorder nach ihren persönlichen Präferenzen programmieren. Sie brauchen Servicenummern, wo man sie nicht in Warteschleifen schmoren lässt. Sie wollen nicht erst sieben Banner wegklicken, bevor sie auf eine Homepage kommen. Und sie wollen ernst genommen werden, wenn sie eine Reklamation haben.
Das funktioniert aber nur, wenn auf der anderen Seite Unternehmer sitzen, die Kundenorientierung zur Chefsache machen. Die eine Ahnung davon haben, wie viele Kundenanfragen zu welchen Themen im Contactcenter eingehen. Die Messgrössen wie Bearbeitungsdauer, Liegezeiten und Servicelevel kennen. Die Dialoge in Echtzeit einsehen und wissen, wie wertvoll Reklamationen als Feedback zu möglichen Qualitätsproblemen sind. die bei André Morys gelesen haben, dass das Auspacken ein magischer und äusserst emotionaler Moment, eigentlich der Höhepunkt des Kauferlebnisses. Und die wissen, dass schnelle Lieferung und intensives Auspackerlebnis sowie ein “Vielen Dank für Ihre Bestellung” im Pakets beim Kunden schon für positive Emotionen sorgen.
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt etwas zum Auspacken. Diese Frage habe ich mir kürzlich bei den Luxus-Fahrzeugen von Porsche, BMW, Mercedes & Co. gestellt, die unverpackt auf offenen Waggons durch den Gotthard rollen, während jeder Audi seine Reise in einem schützenden Massanzug antritt und dem Betrachter auch unterwegs die Wertschätzung signalisiert, die dieses Fahrzeug bei seinen Machern in Ingolstadt ganz offensichtlich geniesst.
Auch dieses Beispiel beweist: Kundenorientierung ist eine Geisteshaltung. Marketing dagegen nur ein Wort und kein Glaubensbekenntnis. Kein Wunder, dass Zino Davidoffs schlichte Lebensmaxime heute noch so grosse Strahlkraft hat: „Wir haben nie Marketing gemacht. Wir haben immer nur unsere Kunden geliebt.“
Zum Autor:
Friedhelm Lammoth begann seine Karriere als Mitarbeiter der Werbelegende Alfred Gerardi. Seit 1982 ist er kreativer Kopf der Dialogagentur Lammoth Mailkonzept in St. Gallen. Lammoth ist Ehrenpräsident des Deutschen Dialogmarketing Verbandes DDV, Mitbegründer der Dialog-Akademie und langjähriger Juror für die Hall of Fame des DM. Als Publizist und Redner begeistert er mit wortgewaltiger Sprachkunst und einer 360-Grad-Optik, die Tiefgang bietet.
Kontakt:
Friedhelm Lammoth
c/o Lammoth Mailkonzept Werbeagentur
Rötelistr. 16 . CH-9000 St. Gallen
Tel. 071 2776252 . f.lammoth@lammoth.ch
Eigentlich könnten wir Werber uns ausnahmsweise einmal selbstzufrieden zurücklehnen. Denn zumindest in einem Punkt sind wir am Ziel: Noch nie zuvor haben die Menschen so viel kommuniziert. Zum ersten Mal erleben wir die Situation, dass Kommunikation Synonym für Marketing ist und Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation. Und wir spüren 24 Stunden am Tag, dass die Botschaften der Werbung unsere Lebenswelt in einem noch nie dagewesenen Masse berühren.
Nicht nur in New York und Hongkong, sondern auch in Zürich, Genf und Basel werden ganze Stadtteile in Werbeträger transformiert. Telefon, Internet, E-Mail, iPhone, iPad und Fernseher haben sich zum Nervensystem der modernen Welt entwickelt. Mit zunehmender Technisierung treten Kommunikations-Gesellschaften an die Stelle traditioneller Glaubensgemeinschaften. Netzwerke mutieren zu „,medialen Kollektivkörpern“, die Einzelne zu Informationsgesellschaften vereinen. Einseitige Information wird zunehmend durch digitale Interaktion abgelöst, bei der Konsumenten nicht mehr nur Empfänger, sondern auch Produzenten von Inhalten sind.
Um uns herum schmeckt alles nach Kommunikation. Und betroffen sind nicht nur die Welt des Konsums, sondern auch Kunst, Politik, Wissenschaft. Es gibt Verbraucher, die täglich 250 E-Mails und 50 Newsletter erhalten, auf Facebook ein paar hundert Freunde haben, in allen möglichen Adresslisten sind, 20 Kundenclubs angehören, 10 Zeitschriften abonniert haben und 50 Kataloge bekommen.
Auf den Strassen ist der Krieg der Klingeln ausgebrochen. Alle sind immer und überall erreichbar. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun sieht im Fernsehen ein Lusterlebnis im Akt der Vereinigung zwischen denen vor der Kamera und denen vor dem Fernseher. Und die Frage „Haben Sie eine Cumulus-Karte?“ wird in den Migros-Filialen schätzungsweise 500 Millionen mal im Jahr gestellt und dürfte damit der meistkommunizierte Satz in der Schweiz sein.
Manchmal hat man den Eindruck, als hätten wir bereits Punkt erreicht, den der amerikanische Futurologe Alvin Toffler 1970 mit seinem „Information Overload“ vorausgesehen hat und als würde im Marketing gerade die Soap „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ in immer schnelleren Intervallen ablaufen.
Während früher das Zuwenig unser Problem war, macht uns heute das Zuviel zu schaffen. Denn noch mehr kaufen, ausgeben, noch mehr lernen, kommunizieren, essen, trinken, wohnen, arbeiten, Spass haben geht fast nicht mehr. Und unsere Aufmerksamkeit wandelt sich immer mehr in ein Modell des zerstreuten Aufsaugens.
Denn überall gelten die Tendenz zur Reduktion und das Primat des Tempodroms: Schneller lesen, schneller schlafen, schneller duschen. Das Essen wird fast, die Liebe quick, der Mittagsschlaf nennt sich neuerdings Power napping. Die in Zeitnot geratene Gesellschaft macht Speed-Wellness und entspannt sich sogar im Schnellzugtempo.
Martin Mustermann mit einem durchschnittlichen Wortschatz von 8‘000 bis 10‘000 Wörtern sieht sich mit mehr als 60‘000 Marken und täglich 4’000 Werbeimpulsen konfrontiert. Und viele reagieren auf Medienvielfalt und Informationsflut mit Panik. Sehen selbst im Sommer so weinerlich aus als seien sie durch das Tragen langer Unterhosen gepeinigt. Und führen dauernd Selbstgespräche, weil sie wissen dass sie ihr Passwort nicht vergessen dürfen: TDG S4 Z5. Denn die neuen Technologien finden mindestens ebenso sehr in den Köpfen der Menschen und in der Kommunikationen zwischen ihnen statt, wie in den Produktionshallen der Fabriken. Und bedeuten für viele Unruhe, Unkalkulierbarkeit und Ungewissheit, weil die neuen Technologien mit ganz anderen Ereignistypen konfrontieren, als die alten.
Davon fühlt sich vielleicht nicht einmal die Mehrheit betroffen. Aber auch Minderheiten können Entwicklungen beeinflussen, wenn sie Beschleunigungswahn und permanenten Innovationsdruck nicht als Bereicherung empfinden. Wenn sie am Kiosk ratlos vor 55 verschiedenen Schokoriegeln stehen. Wenn sie sich bedrängt fühlen, weil Ihnen immer weniger Zeit für sich selbst bleibt. Wenn Sie Postschalter meiden, Tankstellen und Flughäfen, wo man ihnen auch noch etwas verkaufen möchte. Und wenn sie selbst die „Feldwerbung“ in den Äckern der Schweizer Bauern übersehen.
Nicht die Angebote werden knapp, sondern die Wünsche.
In Frankreich treffen sich bereits regelmässig Aktivisten und reissen Plakate in den Metrobahnhöfen herunter. In Wien wurde kürzlich ein ganzer Strassenzug gewaltsam von Leuchtreklamen befreit: „Delete“ heisst das Projekt und will erreichen, dass Werbung ganz aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Solche Tendenzen sind fatal, weil Werbung nicht von Reaktanz, sondern von Akzeptanz lebt. Ausserdem bestätigen sie ein gesellschaftliches Phänomen: die Menschen sind generell skeptischer geworden und glauben immer weniger. Nur noch 43 Prozent den Zeitungen. 27 Prozent dem Fernsehen. 10 Prozent dem Radio. Und noch weniger der Werbung. Und die zunehmende Masse an Werbung steigert nur ihre selektive Wirkung: Anzeigen werden überblättert. Telefonanrufe abgewürgt. TV-Spots weggezappt. E-Mails nicht geöffnet. Von den jährlich 50‘000 Produkt-Neueinführungen scheitern in der Schweiz 90 Prozent, also 45‘000. Denn in der Überfluss-Gesellschaft werden nicht die Angebote knapp, sondern die Wünsche.
Und man hat den Eindruck dass von den Ratschlägen der Werbung eigentlich nur noch die Amerikaner so richtig begeistert sind. Jedenfalls kaufen sie ihr Mineralwasser „cholesterolfree“ und achten darauf dass auch Hundefutter „light“ zu haben ist.
Bei uns sieht es eher so aus, als hätten die Wahrnehmungspsychologen mit ihrer Theorie der begrenzten Aufmerksamkeit recht: Aufmerksamkeit wirkt wie ein Flaschenhals für Informationen, die kognitiv weiterverarbeitet werden sollen. Kein Wunder, dass Werbung bei der lawinenartigen Informationsfülle einen schweren Stand hat. In Statistiken kann man nachlesen – dass TV-Spots 1970 noch von 50 Prozent erinnert wurden. Heute belegt die Marketingweek, dass die Werbeerinnerung gerade noch bei 8 Prozent liegt.
Und weil die Unternehmen im globalen Markt ein anderes Kostenbewusstsein entwickelt haben, werden Werbeausgaben genau so hinterfragt, wie Investitionen in Maschinen: Was ist produktiv? Was kontraproduktiv? Topmanager sprechen aus, was lange tabu war und stellen die Sinnfrage: Ist Werbung noch in der Lage, einen qualitativen Beitrag zu Absatz und Profit zu leisten? Können Werbeausgaben die Rentabilität des eingesetzten Kapitals noch maximieren? Müssen wir akzeptieren, dass Werbung eine Black-Box ist, weil sich der Kunde selbst mit Kernspintomografen nicht in die Karten sehen lässt und sowieso A sagt, wenn er B meint? Und wo soll das Marketing der Zukunft überhaupt ansetzen: Bei der Markenaura? Den Kunden? Bei neuen Zielgruppen? Oder liegt alles Heil in den Blogs und den sozialen Netzwerken, die seit zwei Jahren als Mantra über allem schweben, obwohl das mit den „connected people“ eigentlich nicht völlig neu ist:
Wir wissen von Freud, dass soziale Beziehungen die Voraussetzung unserer Individualität sind; Wir haben gelernt, dass schon die Höhlenmenschen Zugehörigkeit suchten; Und ein paar von uns erinnern sich noch, dass es einmal üblich war, neben der realen Identität ein virtuelles Leben mit Brieffreunden in London oder Paris zu führen.
Trotzdem ist das, was wir heute im Internet mit Facebook, Twitter & Co. erleben, der grösste Hype seit der Einführung des Fernsehens. Und die Schweizer scheinen die Pacemaker der Entwicklung zu sein. Als wollten sie der ganzen Welt beweisen, dass auch bei uns die alten Bilder nicht mehr stimmen: Die Stereotypen vom jodelnden Alm-Öhi, der mit der Linken die Tabakspfeife im bärtigen Gesicht hält während er mit der anderen bedächtig die meckernde Geiss am Bart krault
Herausgefunden hat das der Soziologe Robert Levine, der 31 Länder verglichen und bestätigt hat, dass das Tempo des Lebens in der Schweiz am höchsten ist, weil man hier nicht nur am schnellsten die Strassen überquert und Briefe zustellt, sondern auch Nullkommanichts E-Mails beantwortet und damit vor Irland, Japan und den weit abgeschlagenen Grossmächten USA und China rangiert.
Dazu passt, dass Facebook mit 2.5 Millionen Benutzern in der Schweiz die höchste Entwicklungsgeschwindigkeit hat. „In“ ist im Online-Casting nur, wer sich selbst inszeniert: Text hierhin, Foto dorthin – von da an erfährt man via Facebook, wer sich einen Tee macht und wer gerade den Zug verpasst hat.
Logisch, dass es im Sog des Hypes auch immer mehr Unternehmen in die Netzwerke zieht. Adidas kommt auf 3,2 Millionen Facebook-Fans, BMW auf 700.000, der italienische Haselnussbrotaufstrich Nutella hat sage und schreibe fünf Millionen Fans auf Facebook. Und bei McDonald‘s gibt es bereits einen HSM, einen „Head of Social Media“. Denn obwohl auf Facebook nichts verkauft wird, weil die Verlagerung von Social-Media zu Business-Media noch in den Startlöchern steckt, spekuliert man mit Reputation und Kundenbindung.
Alles geht: Vielfalt als die grosse Chance im Marketing.
Ist das die Zukunft? Forrester Research sagt Ja und prognostiziert eine Ära des sozialen Kontextes und Meta-Social-Networks, die in der Lage sind, die digitalen Identitäten ihrer Nutzer zu erkennen. Die Hirnforschung ist weniger optimistisch und warnt in der ZEIT vom 28. April 2011 davor, die Autonomie des Handelns aufzugeben und die Grenzen des Gehirns auszureizen. Weil es sonst passieren könnte, dass man die Post ins Kühlfach legt, die Butter in den Ofen stellt und die Müffelsocken in der Wohnzimmer- Vitrine zur Schau stellt. Denn auch der digitale Tag hat nur 24 Stunden. Und wenn der Mensch immer mehr kommuniziert, berührt er ständig seine geistige Kapazitätsgrenze und manövriert sich in einen Zustand, den die Psychologie „Ich-Erschöpfung“ nennt. Deshalb raten Wissenschaftler dazu, das Tempo zu drosseln: Wieder über die Qualität von Zeit zu diskutieren; Über Slowfood statt Fastfood; Schreiben mit dem Füllfederhalter; Über die Ruhe von Pergolagärten.
Wahrscheinlich muss das so sein, weil Trend und Gegentrend zur Logik des Fortschritts gehören. Nachzulesen bei Marshall McLuhan, der uns die Einsicht hinterlassen hat, dass mit jedem neuen Medium nicht nur neue Möglichkeiten in die Welt kommen, sondern auch alte Nutzungsformen wiederbelebt werden. Das spricht für die Koexistenz von Langsamkeit und Schnelligkeit, von Online und Offline und bestätigt die Erkenntnis, dass die Multioptionalität zum Normalfall geworden ist: Es gibt in Bezug auf Vertrieb, Marketing, Kommunikation kein Entwederoder mehr, sondern nur noch Sowohl-als-auch, was auch für die Medien gilt. Das Boulevard-Blatt BILD zum Beispiel ist mit täglich 2,9 Millionen verkauften Exemplaren die mit Abstand meistverkaufte Zeitung in Europa. Gleichzeitig bezahlen heute schon mehr als 100‘000 Menschen jeden Tag für ihre digitale Bild-Ausgabe auf mobilen Endgeräten. Und daneben werden auch die Zusatzgeschäfte weiter ausgebaut, indem man noch in diesem Jahr mit einer 20bändigen Bücherreihe über die Literaturnobelpreisträger an den Start geht.
Diese Vielfalt zieht sich überall durch und wird zur grossen Chance im Marketing. Selbst die klassische Werbung ist keineswegs tot, wird aber an Strahlkraft immer mehr verlieren und im Szenario totaler Interaktion nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Zum Leidwesen vieler Werber, die heute noch von der Zeit schwärmen, als ihre Schlagzeilen als geflügelte Worte in aller Munde waren. Man braucht nur an Anzeigen wie „Morgens Ovo – mittags unterwegs“ zu denken. An den Käfer, der lief und lief. Oder an Toni, das Joghurt im Glas.
Wo die klassische Werbung hinkommt, ist das Dialogmarketing längst da.
Skeptiker waren schon immer der Meinung waren, der Mensch hätte nie vom Baum klettern sollen. Diesen Pessimismus habe ich noch nie geteilt. Aber ich bin auch nicht so fortschrittsgläubig, dass ich mich bei Minus 190 Grad für 120‘000 Dollar auf Eis lege, um dem ewigen Leben entgegen zu frieren. Davon hält mich die Vorstellung ab, in 100 Jahren von Uriella wach geküsst zu werden und Beni Thurnheer, Dieter Bohlen und der FC Sion sind auch noch da.
Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass Marketing und Werbung Zukunft haben, weil sich Produkte auch in der virtuellen Welt nicht von allein verkaufen. Nur: Wenn man ein Feuer entfachen will, muss man auch künftig das Zündholz an der richtigen Stelle anlegen. Und die richtige Stelle – das ist auch bei den connected people die Ebene One-to-One. One-to-One ist die Konsequenz des Paradigmenwechsels von der passiven Einbahnstrassen-Werbung zur permanenten Interaktion. Ein Quantensprung des Denkens im Marketing, vergleichbar mit Galileo Galileis Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
Denn die alte Direktwerbung konnte nur auf einem Bein hüpfen, dem Mailingbein Heute ist der Dialog der Tausendfüssler im Marketing. Und es ist wie in der Geschichte vom Hasen mit dem Igel: Wo die klassische Werbung hinkommt, ist das Dialogmarketing längst da. In der Psychologie nennt man so gravierende Veränderungen „Conceptual Change“, weil sie alles auf den Kopf stellen. Insofern ist es kein Wunder, dass viele Unternehmen noch Zeit brauchen, bis sie sich an die 360-Grad-Zuständigkeit des Direktmarketing gewöhnt haben. Und einsehen, dass es nicht mehr reicht, sich auf das Datensammeln und das Personalisieren zu beschränken.
Sowohl-als-auch: Wo ein Trend ist, ist die Gegenströmung nicht weit
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Dieser Satz, den man ohne weiteres dem ehemaligen Weltfussballer Lothar Mathäus zuschreiben könnte, stammt von dem Physiker Werner Heisenberg. Und der hat ihn ironisch gemeint. Aber es stimmt: Das Problem mit der Zukunft ist, dass wir immer weniger Konstanten haben. Das Ende der Normalität hat begonnen, der Verlässlichkeit. Es gibt keinen Marktplatz des 21. Jahrhunderts, den man nur betreten muss und schon ist man drin.
Als der Zukunftsforscher John Naisbitt 1990 seine Megatrends 2000 veröffentlichte, hatte er zehn neue Strömungen im Visier. Heute edieren seriöse Institute ihre Prognosen im Monatstakt und mit viel geringerer Distanz zur Gegenwart. Hermetisch lineare Weltbilder lösen sich auf und das Paradox wird zur Maxime für die Lebensführung der nächsten 10 Jahre. Wo ein Trend ist, ist die Gegenströmung nicht weit. Das eine tun, das andere nicht lassen: Die Bewohner der Zürcher Goldküste fahren Aston Martin und Smart und kaufen sowohl bei Aldi und OBI – als auch im Kaviarcafe. Und die neuen Rahmenbedingungen heissen Flüchtigkeit und Instabilität. Atomausstieg, Griechenland-Bankrott, Kachelmann-Prozess, Steuerabkommen - ständig ist heute falsch, was gestern richtig war. Und umgekehrt. Selbst das Wort Zukunft ist dabei, seinen Ruf zu ruinieren. Denn die digitale Technik fördert keine neue Einheit, sondern die totale Zersplitterung. Die Atomisierung unserer Lebensumstände, die Auflösung der Medien und Marketinglandschaft.
Und ein zurück zum Start wie beim Monopoly ist ausgeschlossen: Die Welt hat den point of no return längst überschritten. Als Basisinnovation sprengt und verändert das Internet einfach alles. Vor allem Wirtschaft und Werbung.
Laut Bundesamt für Statistik gaben im Dezember letzten Jahres 93.4 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz an, das Internet innerhalb von 6 Monaten mindestens einmal benutzt zu haben. 77.4 Prozent bilden den engen Nutzerkreis, die das Internet täglich oder mehrmals pro Woche benutzen. Suchmaschinen sind laut social media Studie der Fachhochschule Münster vom Juni 2011 für rund 70 Prozent der Befragten vor einer Kaufentscheidung richtungweisend. Und für über 25 Millionen Nutzer ist Google der Startpunkt ins Web: Weltweit erfolgen acht von zehn Onlinesuchen über Google, in der Schweiz liegt die Zahl sogar noch höher. Schätzungen gehen davon aus, dass hierzulande mindestens 50 Prozent der Online-Werbegelder in Adwords fliessen. Google wirbt in der Schweiz unter anderem mit dem Onlineshop Flaschenpost, der nach eigenen Angaben aus jedem Adword-Werbefranken das Doppelte erlöst und mit 1000 Anzeigenvarianten und 500 Keywords die Kundenzahl jedes Jahr verdoppelt hat.
Den höchsten Zuwachs zwischen Status quo und Zukunftseinschätzung hat jedoch E-Mail-Marketing, das auf absehbare Zeit einer der wichtigsten Umsatztreiber im Online-Marketing bleiben wird. Vorausgesetzt, die Botschaften sind relevant und die Abonnenten werden nach der Anmeldung zum Newsletter nicht in den grossen Topf geworfen, sondern mit einer mehrstufigen Willkommensserie vom zum Kunden konvertiert. Und vorausgesetzt, man setzt keine Massenmails ein, sondern auf den Kundenlebenszyklus zugeschnittene Kampagnen.
Überdurchschnittliche Effizienz darf man vor allem von Transaktions- oder Triggermails erwarten, also durch Käufe, Nutzeranfragen sowie vergleichbare Aktivitäten angestossene und automatisiert versandte E-Mails. Aus der aktuellen Studie von Experian Marketing geht hervor, dass Kunden Transaktionsmails zum Teil sogar mehrfach öffnen. Die Öffnungsrate von Bestellbestätigungen ist bis zu 8 Mal höher als bei Massenmails, die Klickrate liegt im Schnitt um das 4-fache höher und beim Umsatz schlagen Transaktionsmails normale E-Mails um das Fünffache.
Obwohl erst 47 Prozent der Unternehmen Transaktions-bzw. Trigger-Mails einsetzen, sprechen wir hier von einer zukunftsweisende Spielart des Dialog-Marketing, zumal der Empfänger im Zentrum der übermittelten Botschaft steht: Er erhält zum richtigen Zeitpunkt eine individuelle, durchgehend personalisierte Information, die für ihn von hoher Relevanz ist; Der Mailinhalt hat immer einen Bezug zum aktuellen Nutzerstatus; Und der Kunde wird „just in time“ angesprochen, weil der Zeitpunkt des Kontakts direkt von einem vergangenen oder zukünftigen Anlass oder nach Eintreten einer Ereigniskette ab.
Was Facebook, Twitter, Xing & Co. betrifft, hat das Marktforschungsinstitut Gartner kürzlich über erste Ermüdungserscheinungen bei Facebook-Nutzern in den Kernmärkten informiert. Aber das wird nicht viel daran ändern, dass die Sozialen Netzwerke weiter viel Traffic bringen und als Aktivierungspunkte wichtig bleiben. Allerdings gibt es noch ein „aber“: der Traffic ist lange nicht so zielgerichtet, wie der über Suchmaschinen generierte Share-of-voice. Auf Facebook ist die Bounce-Rate sogar am grössten. Und das heisst: Ein Link wird einfach angeklickt, kurz die Website besucht – und dann gleich wieder verlassen.
Was Marketer auch bedenken sollten: Werbung in Sozialen Netzwerken ist lange nicht so conversionorientiert, wie etwa Google Adwords und zielt mehr auf Branding und Awareness ab. Hinzu kommt, dass die Werbewirkung nur schwer messbar ist. Denn Social Media ist kein geschlossener Bereich, sondern zieht sich quer und kanalübergreifend durch verschiedene Bereiche.
Wenn ein hocheffizientes Dialoginstrument noch ein Nischendasein führt, dann Online-PR. Allerdings völlig zu Unrecht. Denn die wenigsten wissen, dass selbst Google, Starbucks & Co. ihre Marken keineswegs mit klassischer Werbung aufgebaut haben, sondern mit Storytelling und interaktiven PR-Kampagnen im Internet. Damit gehören die Hochglanz-Pressemappen der Vergangenheit an. Sie werden ersetzt durch interaktive Medienmitteilungen, die sich nicht nur an Journalisten richtet, sondern an die Öffentlichkeit. Und damit über Presseportale, News Portale, Networks etc. eine Reichweite und zählbares Business erwirtschaften, von der die traditionelle PR früher nur träumen konnte.
Kein Wunder, dass bei diesen Perspektiven immer mehr Unternehmen ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb mit der Online-Welt verbinden. Die Begeisterung ist verständlich. Aber die Sichtweise einseitig, weil es sich dabei um ein quantenoptisches Phänomen handelt: den Tunnelblick. Die Begrenzung des Gesichtsfeldes durch eine eingeschränkte Wahrnehmung. Dieses Wahrnehmungs-Defizit registriert man heute nicht nur bei Markenartiklern, die beim Thema Social-Media in eine Art elysische Verzückung verfallen, während sie sich vor kurzem ausschliesslich im Glanz von TV-Spots und Panoramaanzeigen sonnten.
Das digitale Virus hat auch gestandene Direktwerber befallen, Vögele-Jünger, die ein Leben lang auf Katalog und Mailing fixiert waren. Aber selbst diese Dinos sind heute so tief in die virale Welt eingetaucht, dass viele von ihnen Phantomschmerzen empfinden, wenn sie einmal offline sind. Wenn Unternehmen oder Agenturen im Marketing nur noch Leute mit Social-Media-Knowhow einstellen, ist das ähnlich überzogen, wie wenn der Sanitär aus Appenzell Innerrhoden eine mehrsprachige Homepage mit Shop ins Netz stellt, damit auch die Feuerland-Indianer bei ihm Toilettendeckel in Suisse Norm bestellen können. Viele vergessen vor lauter Euphorie, dass auch die neue Welt sowohl eine Online-, als auch eine Offline-Hemisphäre hat und dass es keine Kluft zwischen Digitalem Immigrant und Digitalem Exilant geben darf. Denn wenn das Zürcher Tonhallen-Orchester Franz Schubert spielt, käme auch kein Mensch auf die Idee, seine Klaviersonaten nur mit weissen oder ausschliesslich mit schwarzen Tasten zu spielen.
Im Klartext bedeutet das, dass wir nicht nur den virtuellen Optionen weiter auf den Fersen bleiben, sondern auch die klassischen Dialog Tools wieder nutzen müssen, wenn wir den Kunden nicht aus den Augen verlieren wollen. Nicht nur, weil das Internet nie nach frischem Kaffee riechen und keinem Menschen kleine Geschenke in die Hand drücken kann, sondern auch, weil zwei Dinge absehbar sind. Erstens: Dass wir erst mit 32 Prozent digitalen Souveränen zu tun haben, also den Trendnutzern und Profis. 60 Prozent der Internetnutzer sind laut aktuellen Zahlen von TNS Emnid immer noch digitale Aussenseiter und Gelegenheitsnutzer. Zweitens, dass die Disziplinierungs-Ideologie der Politik, die weniger von Bern als von Berlin und Brüssel aus die Angst schürt und das Sicherheitsbedürfnis dreist bedient, die Wachstumsdynamik der Online-Medien per Gesetz abbremsen wird. Drittens, dass die traditionellen Tools automatisch attraktiver werden, sobald Online-Werbung teurer wird.
Multichannel als strategischer Ansatz, die Menschen auf verschiedenen Wegen zu erreichen
Das heisst nicht, dass nach dem technologischen Fortschritt jetzt schon wieder der nächste Rückschritt vor der Tür steht. Mir geht es nur um Argumente, warum intelligente Multi-Channel-Kommunikation E-Mail, Telefon, Social-Media und Print parallel nutzt und sich der jeweiligen Stärken bedient. Denn im New Marketing können wir uns keine Glaubenskriege leisten, sondern sind dem Pragmatismus verpflichtet. Und das bedeutet - egal wie das Internet Werbung und Kommunikation verändert: Multichannel ist der strategische Ansatz, die Menschen auf mehreren verschiedenen Wegen zu erreichen und die konsequente Fortsetzung der Nutzung unterschiedlicher Werbekanäle in Form von Bereitstellung verschiedener Kommunikations- und Vertriebswege.
Unter diesem Aspekt wird das Telefon auch in Zukunft seine Stärke ausspielen, den direkten Zugang zum dem Kunden zu ermöglichen. Der Weg zum Markt via Telefon ist kurz, schnell und flexibel. Und der Dialog am Telefon funktioniert. Ich meine hier weniger die Telekommunikationsanbieter, Verlage und Weinversender, die mit Anrufen zum falschen Zeitpunkt nicht zimperlich sind. Sondern ich meine zum Beispiel Europas grösste Direktbank, die Ing DiBa. Dibadibadu – die Erkennungsmelodie im TVSpot mit Basketballer Dirk Nowitzki hat praktisch jeder schon einmal gehört. Und die Erfolgsstory der DiBa ist ein Beleg für die Effizienz des Telefons im Direktmarketing. Denn die DiBa hat weder Niederlassungen noch Schalterhallen, sondern operiert vorwiegend per Telefon. Die Mitarbeiter werden nach ihrer Telefonstimme ausgesucht. Und nach Anfragen rufen DiBa-Mitarbeiter regelmässig zurück und fragen, ob alles geklappt hat oder ob der Kunde noch etwas braucht.
Was auch auf den Radar der Unternehmen gehört, ist Mobile Marketing. Denn laut Studie „New Shopper Journey“ von Microsoft Advertising/Carat vom Februar 2011 konsultieren 24 Prozent der Befragten während des Einkaufs ihr Handy - vor allem zum Preisvergleich. Und die wachsende Verbreitung von Smartphones trägt dazu bei, dass das Internet den Konsumenten praktisch bis zum Bezahlvorgang begleitet. Und es wird erwartet, dass im Jahr 2014 mindestens 39 Prozent aller Benutzer mobiler Endgeräte im Internet surfen und damit eine ähnliche Wachstumskurve auslösen werden, wie sie auch beim Internet-Zugang mit Computern zu beobachten war
Das Mailing als Unterschied zwischen Standard und spürbarer Wertschätzung
Aber auch Print wird nicht vom Radar verschwinden, sondern seine wichtige Funktion als Kundenbindungstool behalten. Und wenn ich Print sage, meine ich die gesamte Bandbreite dialogfähiger Medien und Werbemittel von der Couponanzeigen und Beilage in Zeitungen und Zeitschriften über unadressierte und teiladressierte Streuprospekte bis zu personalisierten Postkarten, Mailings und Katalogen.
In einer Umfrage von TNS Emnid war kürzlich zu lesen, dass 36 Prozent der Werbungtreibenden in Deutschland davon überzeugt sind, dass die Bedeutung des Werbebriefs nicht ab, sondern zunimmt. Das ist trotz Internet gar nicht so abwegig. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass sich das Mailing als Alternative – wenn nicht sogar als Gegenpol zum öffentlichen Austausch der sozialen Netzwerke - positioniert. Als Unterschied zwischen standardisiertem Kundenkontakt und spürbarer Wertschätzung. Denn wenn Enrique Dans von der IE Business School recht hat, steuern wir auf ein System der geteilten Aufmerksamkeit zu. Und das bedeutet auf der einen Seite einen Konsumtypus, der sich mit mundgerechten Informations-Snacks begnügt, die auf ein T-Shirt passen. Und auf der anderen Seite Verbraucher, die mehr Zeit aufwenden, bewusster aufnehmen und selbst für Werbung ein längeres Intervall zur Verfügung haben.
Ich teile auch die Ansicht, dass alle, die jetzt den Offline-Dialog vernachlässigen, bald feststellen, dass sie ihre Kunden nicht mehr binden und schon gar nicht mehr begeistern, sondern nur noch bedrängen oder be-spassen können. Kein anderes Meum ist besser dafür geeignet, intensive Bezugssysteme herzustellen, um ergänzend zur schnellen Flüchtigkeit der Online-Medien über den Kauf hinaus möglichst langfristige Interessengemeinschaften zwischen Anbieter und Kunde zu schaffen. Denn im Gegensatz zum öffentlichen Austausch wie er in den Communities stattfindet, ist die Unter-vier-Augen-Kommunikationsebene des Mailings eine seiner grössten Stärken.
Und wenn es wirklich so sein sollte, dass wir in Zukunft weniger physische Post bekommen, weil immer mehr Regelkommunikation wie Rechnungen und Kontoauszüge ins Internet abwandern – eine Krankenkasse wie die CSS verschickt immer noch jährlich 14 Millionen Rechnungen per Post - wird das Brief und Mailing qualitativ nur noch mehr aufwerten und erst recht zum Premium-Werbemittel machen. Vor allem bei Hochpreisprodukten. Und im Bereich BtoB. Denn hier kommt es noch mehr auf hochwertige Inhalte an, als auf Funktionalitäten. Weniger auf Geschwindigkeit, als auf Exklusivität: Nicht schneller wissen, sondern intensiver erleben. Über Haptik, Inspiration und die Emotion guter Geschichten. Denn Kunden kaufen immer weniger „solutions to a problem“ – aber immer mehr „good feeling“. Und bezahlen für Emotionen mehr, als für Rabattangebote. Denn Im warmen Licht der Begeisterung verblasst der Preis. Für durch und durch gute Gefühle sind Menschen bereit, tiefer in die Tasche zu greifen: also auch Preisschmerz hinzunehmen und ein Preis-Premium zu zahlen.
Man braucht nur an exklusive Uhren zu denken, an schnelle Autos, an die Spendierfreude in den Ferien oder den Hauch von Nichts im Wäschegeschäft. Oder an die Prachtbauten der Banken und die Ausstattung der Chefbüros. All das zeigt: Gute Gefühle spielen sowohl im Consumer-Bereich, als auch auf Business-Ebene eine grosse Rolle. Selbst die LOHAS-Anhänger stehen für ein oszillierendes Trendverständnis, weil sie das Leben nicht mehr auf ein einziges Ideal ausrichten, wie es früher die Ökos getan haben, sondern weil sie verschiedene lebensweltliche Aspekte und Pole miteinander verbinden: Luxus und Umweltschutz, Sparsamkeit und Leistung lauten die dualen Devisen.
Hybride Werbeformen verzahnen Werbebrief mit Internet, Online mit Offline
Es ist und bleibt ein qualitativer Unterschied, ob ich eine Einladung zur Vernissage zwischen einem Viagra-Mail und dem Newsletter eines Fitness-Studios erhalte oder per Post auf Büttenpapier. Es hat eine andere emotionale Qualität wenn mir das SOS-Kinderdorf einen Brief meines Patenkindes Nkulikiyanka aus Ruanda mit Fotos von ihrem ersten Tag an der Sekundarschule weiterleitet, als wenn ich das auf der Homepage suchen muss.
Wir müssen uns auch von der Einschränkung verabschieden, dass Mailings in erster Linie dazu da sind, Käufe zu generieren und Cross- und Up-Selling zu realisieren. Das Mailing der Zukunft wird mehr sein als ein Response-Generator. Seine entscheidende Kraft wird im Sowohl-als-auch bestehen: Sowohl mit emotionaler Hebelwirkung und kreativen Zugängen Verhalten auszulösen, als auch gleichzeitig auch Image zu bilden.
Viele Anwender wissen, wie positiv Kunden reagieren, wenn man einmal eine Danke-Aktion per Postkarte oder Brief lanciert. Eine Aktion bei der man ausnahmsweise einmal nichts verkauft sondern dem Kunden nur für seine Treue dankt.
Und was es auch noch geben wird: Nicht nur die üblichen Solo-Auftritte – sondern auch Co-Mailings, bei denen Marken und Unternehmen kommunikative Beziehungen eingehen. Das ist in der klassischen Werbung schon lange üblich und macht Sinn, weil Co-Mailings Kosten und Nutzen optimieren, indem unterschiedliche Soll-Positionen und Kompetenzen genutzt werden.
Etwas versprechen darf man sich auch von der Entwicklung hybrider Werbeformen, die Mailing und Internet, On- und Offline verzahnen: Augmented Reality kann mithilfe eines iPhones oder Androidphones und einer kostenlosen App gedrucktes Papier zum Leben erwecken. Man startet die Anwendung, hält die Handykamera über die markierten Seiten – und Heftinhalte in geraten in Bewegung und erwachen zum Leben.
Und für viele heisst das Zauberwort heute schon PURL – Personal Url, die der Kunde per Postkarte oder Brief erhält – www.//Musterfirma/Max Muster.ch, die ihn auf eine durchgehend personalisierte, interaktive Homepage mit Rückmeldung an den Verkäufer führt. Beim PURL-Marketing startet der Online-Dialog, sobald die PURL vollständig in die Adresszeile des Browsers eingetippt wird. Und hohe zweistellige Visiter-Zahlen im Bereich von 30 Prozent werden nicht nur von Unternehmen wie Vitacost aus den USA gemeldet, sondern auch von Anwendern in Europa.
So gesehen hat selbst der tot geglaubte Massenversand noch viel Zukunft. Vorausgesetzt, man setzt Mailings als Verbindungsglied zur Onlinewelt ein. Vielleicht liegt hier sogar der Schlüssel zu einer ökonomischen Maximierung der One-to-One-Fokussierung. Denn Werbung wird besonders effizient, wenn sie sich verselbstständigt und dem One-to-Some Prinzip der Nachrichtenverbreitung folgt. Und die Inszenierung eines Schwarms zeigt erst, welches Potenzial in den Menschen, der Branche, den Medien und dem Markt steckt.
Man braucht nur an Facebook zu denken, aber auch an Amazon, an Street Parades, volle Lokale, volle Fussballstadien und volle Fanzonen. All das belegt, dass nicht nur Bienen, Zugvögel und Fische, sondern auch Menschen in Schwärmen denken und sich Schwarmtrends anschliessen können. Und jetzt nimmt man hunderttausend Hundebesitzer. Zunächst ist das nur eine statistische Grösse. Aber hunderttausend Hundebesitzer per Mailing auf die Homepage des Futterherstellers dirigiert, eingeloggt und mit dem Callcenter verknüpft – so könnten interaktive Marktplätze in Zukunft funktionieren.
Tue nichts, was es schon gibt: Mailings müssen immer wieder neu erfunden werden
Als einer von drei Initiatoren des Schweizer Direktmarketingpreises gehöre ich zu den Fans der Kampagneros, die nicht nur mit den Flügeln schlagen, sondern wenigstens einmal im Jahr richtig abheben, wenn es Gold, Silber und Bronce zu gewinnen gibt.
Denn wenn es den Schweizer Direktmarketingpreis nicht gäbe, wäre unser Job ein anonymes Geschäft. Jeder müsste glauben, dass alle nur mit Wasser kochen. Kein Mensch wüsste, dass immer ein paar dabei sind, die Weihwasser nehmen. Und der permanente Nobody-Status gäbe keine Nahrung für Neid und Missgunst, die angeblich auch in der Schweiz die höchste Form der Anerkennung darstellen.
Aber eine Sache irritiert mich: Ich habe noch nie in meinem Leben selbst so ein Gold- oder Silber-Mailing in meinem Briefkasten gehabt und kenne die Siegerkampagnen nur aus der Vitrine oder vom Foto. Da macht man sich natürlich so seine Gedanken. Zuerst habe ich gedacht, es hängt damit zusammen, dass ich in St. Gallen wohne - also von Zürich aus gesehen kurz vor dem Ural. Dann habe ich überlegt, ob ich vielleicht zu wenig verdiene. Aber den Verdacht werde ich sowieso mein ganzes Leben nicht los. Bliebe also noch der Bildungsabschluss. Und das ist bei mir ein ganz heikler Punkt. Denn ich habe bis heute nicht den Mut aufgebracht, meiner Mutter zu gestehen, dass ich es noch nicht einmal zum Magister gebracht habe, weil ich im Direktmarketing gelandet bin.
Aber auch wenn man in St. Gallen wohnt, zu wenig verdient und keinen akademischen Abschluss hat, bekommt man Mailings. In meinem Fall für eine Automarke, die ich seit vielen Jahren nicht mehr fahre. Zuerst habe ich das ja positiv gesehen und mich gefreut, was der Händler für eine treue Seele ist. Aber mit den Jahren habe ich mich doch gefragt, ob die mich überhaupt noch kennen oder ob sie mich aus den Augen verloren haben. Denn sonst würden sie mir doch keinen Standardbrief schicken, sondern mich individuell ansprechen. Etwas so:
„Herr Lammoth, wir wissen: Als Sie noch einen Citroen fuhren, war Citroen noch eine Philosophie, ein kleines Glaubensbekenntnis...“
So etwas würde ich garantiert lesen – und mich irgendwie immer noch zur Citroen-Familie zugehörig fühlen. Denn Autos vergisst man. Emotionale Schaukelerlebnisse in einem Citroen XM nie. Und es heisst ja: man muss seine Kunden nicht beim Produkt, sondern bei Ihren besten Gefühlen packen.
Aber wenn Sie jetzt glauben, die anderen Automobilmarken würden um so mehr um mich buhlen: Fehlanzeige. Mich ignoriert sogar der Händler – bei dem ich schon zwei Neuwagen gekauft habe. Er jagt lieber den Gelegenheitskäufer und verhält sich damit so wie jemand, der im Rotlichtviertel vom Zürcher Kreis 4 eine feste Beziehung sucht. Erschüttert ist auch mein Glaube an CRM-Systeme, seit ich bei einer Baumschule am Bodensee Zwergpflanzen für meine Dachterrasse bestellt habe und von da an Kataloge für Elektro-Rasenmäher, Mails für Maulwurfsfallen und Flyer für eine Anti-Hunde-Pflanze erhalte. Botanische Bezeichnung: Coleus canina. Deutscher Name: „Verpiss Dich“. Und ein Onkel von mir hat sich beklagt, weil er kürzlich einen Brief von den Anishinabe-Indianern erhalten hat, die ihn um etwas Geld baten. Dabei lebt er in der Romandie, spricht kaum deutsch und hat noch nie im Leben von den Anishinabe- Indianern gehört.
Diese Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Bei 10 Einkaufserlebnissen und Angeboten sind 4 davon sehr negativ, 4 durchschnittlich und höchstens 2 positiv. Aber es ist tröstlich, dass es wenigstens ein paar Unternehmen gibt, die ihr Geschäft aus Kundensicht betrachten. Trotzdem fragt man sich natürlich: Warum ist etwas so Selbstverständliches wie Kundenorientierung so schwer umzusetzen?
Vermutlich ist zu starkes betriebsinternes Denken eine der Ursachen. Unternehmer und Mitarbeiter stellen nur ihre eigenen Produkte und Probleme in den Vordergrund, aber nicht das Kundenbedürfnis. Produktentwickler haben in vielen Unternehmen keinen direkten Kundenkontakt mehr und kennen dadurch die Kundenwünsche und Probleme nur unzulänglich. Und im Management scheinen immer mehr Schreibtischtäter die Fäden zu ziehen, die wenig Beziehung zum wirklichen Leben haben und deren Kontakt zur Aussenwelt sich auf den Umgang mit dem französischen Kellner im Gourmet-Lokal beschränkt.
Make the customer WOW – zündende Funken als Glücksgefühl weitergeben.
Werbung ist nicht nur ein Job, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Und aus der können wir uns nicht entlassen weil die Summe unseres Handels Wellen erzeugt und Menschen beeinflusst. Werbung muss gute Gefühle vermitteln. Keinen Geiz. Keinen Neid. Keine Trübsal. Wir müssen den Menschen Lust machen und Leidenschaften wecken und die Werber ermuntern und wieder das Lachen zulassen. Vorzugsweise in ganzen Sätzen und mit guten Geschichten. Und nicht in den Appetithäppchen der virtuellen Welt, wo viele sich so cool verständigen, als könnten sie zwischen den Abkürzungen auch noch Eiswürfel spucken.
„Make the customer WOW“ sagen die Amerikaner. Und meinen damit, dass Werber in der Lage sein müssen, ihre Leser mit starken Texten zu faszinieren. Denn die Identität einer Marke entsteht in der Zuneigung der Menschen zur Summe aller Geschichten, die eine Marke oder ein Unternehmen über sich erzählen.
Man muss in einem früheren Leben nicht selbst ein Schwein gewesen sein, um über Schnitzel schreiben zu können. Aber man muss in der Lage sein, mit einem Mailing Begeisterung zu entfachen. Den Funken zu schlagen, der von Mensch zu Mensch fliegen und als Glücksgefühl aufgenommen werden soll. Und mit einer Story fesseln – die nicht mehr loslässt – bevor sie zu Ende gelesen ist. Denn der Dialog ist eine Inszenierung. Er muss zum Staunen bringen, in Versuchung führen Interaktion auslösen mobilisieren, das schaffen, woran der Leser vielleicht Sekunden vorher nicht mal im Traum gedacht hat.
Gerade wenn es im Marketing weder Konstanten noch Leitplanken gibt, wird der Glücksbegriff wieder Grundlage für erfolgreiche Geschäfte, für Timing, für Chancen, für Verantwortung und für Stimmungen. Auch auf die Gefahr hin, dass der Schein manchmal zum Sein mutiert. Aber mit der Chance dass das tausendfach reproduzierte Klischee vom Glück beim tausendundeinsten Mal Wirklichkeit wird.
Die Mailings der Zukunft müssen deshalb neue Ideen verfolgen, gegen den Strom schwimmen, unkonventionell auftreten, einzigartiger sein, spielerischer, kreativer, müssen einen höchstmöglichen Grad an Interaktion anstreben – und die Brand Storys, die Heldengeschichten aufgreifen, die uns früher die klassische Werbung erzählt hat. Stellen Sie sich vor, was alles in einem Briefumschlag stecken könnte: Mailings für ein italienisches Kochbuch könnten nach frischem Oregano riechen. Electronic speech systems können sprechende Mailings ermöglichen. Mailings könnten sich automatisch öffnen und sich selbst vorlesen. Und Einladungen zu einer Modenschau könnten sich wie Seide anfühlen und wie Chiffon rascheln.
Kunden wollen nicht die totale Kommunikation. Sie wollen eine, die genau ihren Stimmungslage und ihren Bedürfnissen entspricht. Das meint sinngemäss auch der amerikanische DM-Berater Ray Considine mit dem Hinweis in einem seiner Kundenbriefe: „In this age of electro-correspondence, amidst avalanches of E-mail, it’s interisting that some few out-ofthe-box-thinklers send (are you ready?) handwritten notes! That really gets your attention these days ...“
Tue nichts, was es schon gibt – diesen Satz müssen die Unternehmen schnellstens verinnerlichen. Denn 90 Prozent aller Kampagnen werden immer noch nach einem halben Dutzend kreativer Raster gestrickt – entstehen also nach Schema F. Das kann nicht mehr funktionieren, wenn Inhalte wie Lawinen von überall auf alle einströmen und sich der Kunde immer unberechenbarer verhält. In diesem Szenario informeller Hypertrophie wird Kreation zum Kampf um Aufmerksamkeit. Deshalb kann es nur einen Trend geben: Den Trend, mit Trends zu brechen. Denn wenn alles Zack macht, muss man selbst Zick machen. Nur wenn Kreation in Zukunft gegen etablierte Formen der Werbung verstösst, Regeln bricht, sich weiterentwickelt und neue Wege einschlägt, kann Werbung noch einen qualitativen Beitrag zu Absatz und Profit leisten.
Dazu brauchen wir Auftraggeber, die auch einmal gegen das 11. Gebot verstossen: Du sollst kein Risiko eingehen. Die nicht mit aufkeimenden Ideen umgehen, wie Spargelbauern mit den Spargeln: Wer den Kopf reckt – kriegt das Messer an den Hals. Und eine neue Generation von Kreativen, denen Visionen wichtiger sind als Provisionen. Nicht mehr die Phrasenmäher mit Slogans wie „Come in and find out“ für Douglas Kosmetik was 68 Prozent in der Schweiz mit „Komm herein und finde wieder heraus“ übersetzt haben. Oder dem „Drive alive“, mit dem Mitshubishi selbst Sprachwissenschaftler hoffnungslos überfordert hat. Es sei denn „Fahre lebend“ war von vornherein nur als Provokation für Zombies gedacht.
Wenn 90 Prozent aller Produktinnovationen scheitern
und nur noch ein Bruchteil der Werbung
erinnert wird, müssen die Unternehmen ihre Distanz
zum Kunden drastisch verkürzen, indem sie
ihn nicht nur bei der Produktentwicklung, sondern
auch bei der Planung von Werbemassnahmen aktiv
mit einbeziehen. Denn in Zukunft reicht nicht mehr
das „trickle down“, das von oben auf den Kunden
herabtröpfelt. Nur mit einem innovativen Trickle-up-
Ansatz, bei dem kreative inputs auch von unten nach
oben, von der Strasse in die Unternehmen wandern,
werden aus Ideen Botschaften, die der Kunde wirklich
haben will und aufnimmt.
Wir haben nie Marketing gemacht. Wir haben immer nur unsere Kunden geliebt.
Früher hiess es, als Kreativer müsse man den „helicopter overview“ haben. Falsch. Als Werber muss man nicht nachts über das Emmental flattern. Aber das können, was ich von meinem Bäcker zu Hause erwarte: Nämlich exzellentes Brot backen. Und die Menschen davon überzeugen dass Werbung Leidenschaft und keine Nebenbeschäftigung ist. An Optionen wird es uns in Zukunft nicht fehlen. Denn nicht das Zuwenig, sondern das Zuviel ist unser Problem. Deshalb sollten wir nicht den Fehler machen, uns zu sehr auf die Medien und auf die Produkte zu konzentrieren und zu wenig auf den Kunden und den Mehrwert des Drumherum. Und wahrscheinlich sollten wir uns auch mehr an das chinesische Sprichwort halten, dass nur der einen Laden eröffnen sollte, der ein freundliches Gesicht hat.
Denn es ist ein Trugschluss zu glauben, Kundenorientierung hätte in erster Linie mit Marketing und Werbung zu tun. Kundenorientierung ist vor allem eine Sache der Dienstleistungsqualität. Dienen und Leisten - und das ohne Ladenschlusszeiten Denn sonst besteht die Gefahr – dass wir den Kunden aus den Augen verlieren zumal er immer mehr zum Do-it-Yourself-Verbraucher wird: Druckt sich seine Bordkarten selbst aus. Entwirft seine Briefmarken von eigener Hand. Muss die Gebrauchsanweisung für sein Handy im Internet herunterladen. Und bei Beschwerden die Hotline anrufen und für jede Minute bezahlen.
Man kann in Frage stellen, ob für die Leute ihre personalisierte Zeitung wirklich so lebenswichtig ist. Oder die eigene, individuell gebraute Biersorte. Vielleicht werden wir gar nicht so viel Private Products wie erwartet brauchen, weil der Einzelne als Zeichen seiner Individualität doch lieber seine Zugehörigkeit zu den Communities von Diesel und BOSS zeigt, als die Eigenmarke Markus Möglich zu tragen. Aber was die Menschen wirklich brauchen, sind Bedienungsanleitungen, die ihnen genau erklären, wie sie einen DVD-Recorder nach ihren persönlichen Präferenzen programmieren. Sie brauchen Servicenummern, wo man sie nicht in Warteschleifen schmoren lässt. Sie wollen nicht erst sieben Banner wegklicken, bevor sie auf eine Homepage kommen. Und sie wollen ernst genommen werden, wenn sie eine Reklamation haben.
Das funktioniert aber nur, wenn auf der anderen Seite Unternehmer sitzen, die Kundenorientierung zur Chefsache machen. Die eine Ahnung davon haben, wie viele Kundenanfragen zu welchen Themen im Contactcenter eingehen. Die Messgrössen wie Bearbeitungsdauer, Liegezeiten und Servicelevel kennen. Die Dialoge in Echtzeit einsehen und wissen, wie wertvoll Reklamationen als Feedback zu möglichen Qualitätsproblemen sind. die bei André Morys gelesen haben, dass das Auspacken ein magischer und äusserst emotionaler Moment, eigentlich der Höhepunkt des Kauferlebnisses. Und die wissen, dass schnelle Lieferung und intensives Auspackerlebnis sowie ein “Vielen Dank für Ihre Bestellung” im Pakets beim Kunden schon für positive Emotionen sorgen.
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt etwas zum Auspacken. Diese Frage habe ich mir kürzlich bei den Luxus-Fahrzeugen von Porsche, BMW, Mercedes & Co. gestellt, die unverpackt auf offenen Waggons durch den Gotthard rollen, während jeder Audi seine Reise in einem schützenden Massanzug antritt und dem Betrachter auch unterwegs die Wertschätzung signalisiert, die dieses Fahrzeug bei seinen Machern in Ingolstadt ganz offensichtlich geniesst.
Auch dieses Beispiel beweist: Kundenorientierung ist eine Geisteshaltung. Marketing dagegen nur ein Wort und kein Glaubensbekenntnis. Kein Wunder, dass Zino Davidoffs schlichte Lebensmaxime heute noch so grosse Strahlkraft hat: „Wir haben nie Marketing gemacht. Wir haben immer nur unsere Kunden geliebt.“
Zum Autor:
Friedhelm Lammoth begann seine Karriere als Mitarbeiter der Werbelegende Alfred Gerardi. Seit 1982 ist er kreativer Kopf der Dialogagentur Lammoth Mailkonzept in St. Gallen. Lammoth ist Ehrenpräsident des Deutschen Dialogmarketing Verbandes DDV, Mitbegründer der Dialog-Akademie und langjähriger Juror für die Hall of Fame des DM. Als Publizist und Redner begeistert er mit wortgewaltiger Sprachkunst und einer 360-Grad-Optik, die Tiefgang bietet.
Kontakt:
Friedhelm Lammoth
c/o Lammoth Mailkonzept Werbeagentur
Rötelistr. 16 . CH-9000 St. Gallen
Tel. 071 2776252 . f.lammoth@lammoth.ch