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Controlling-Schamanen mit Schwimmflügelchen

Für mehr Offenheit in der Kundenkommunikation.
Gunnar Sohn | 20.06.2014
Man könnte soziale Netzwerke und die Welt der Controlling-Gläubigen auch als Antipoden im Sinne von Hans Magnus Enzensberger definieren: Zufall versus Kalkül. Controller zappeln hilflos in einem Meer der Ungewissheit und verkaufen der Öffentlichkeit ihre Kontroll-Schwimmflügelchen als stabile Garanten gegen die Gefahr des Ertrinkens. Sie sind die neuzeitlichen Schamanen, Wahrsager, Magier, Sterndeuter und Priester des Kalküls – sie sind die Wegbereiter zur Rationalisierung des Glücks. Sie sind die Apologeten, die das Ende des Zufalls einleiten und sich als Klatschbasen der Statistik verdingen. Lebensmotto: Was scheren mich meine Fehlprognosen von gestern – das rechnet doch eh keine Sau nach. Ziehen wir die Wissensanmaßung der Algorithmen-Jünger ab, bleiben eben nur die Plastik-Schwimmflügel übrig. Eine magere Ausbeute. Wie groß ist da der Kosmos des Zufalls sowie das Prinzip von Versuch und Irrtum. Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern ein Denkanstoß für die Vorteile eines Netzes ohne zentrale Steuerung. Wer auf die Netzwerkeffekte und die Weisheit der Vielen setzt, erhöht die Optionen, um auf nützliches Wissen zu stoßen.

Zentralistische Organisationen verlieren in diesem Spiel, wie groß und übermächtig sie heute in Gestalt der Marktführer auch noch erscheinen mögen. Organisationen bleibt in dieser vernetzten Welt nur noch eine Option übrig, sie müssen sich wie der Mahlstrom-Matrose verhalten. Sie können Signale wahrnehmen, deuten, kuratieren und daraus das richtige Verhalten ableiten: „Go with the flow“, lautet die Empfehlung von Tim Cole und Ossi Urchs. Wie wäre es, auf vorgefertigtes Schablonen-Blabla zu verzichten, Kontrollschleifen abzuschaffen und direkt mit Menschen ins Gespräch zu kommen? Etwa in Live-Hangouts, so eine Art virtueller Kunden die nicht nach Drehbuch geplant werden. Unternehmen könnten das Wunder des guten Gesprächs erleben. Um die kollaborativen Potenziale des Netze für die eigene Organisation nutzbar zu machen, sollten Unternehmen das machen, was die Jesuiten „Exerzitien“ nennen, so der Ratschlag des Netzwerkexperten Professor Peter Kruse: „Sie machen Übungen, die dazu geeignet sind, Wertemuster in Bewegung zu versetzen. Und ich glaube, das empfindet jeder, der mit diesen Technologien arbeitet. Wenn man sich wirklich in seinem Alltag auf die neuen Möglichkeiten einlässt, ändert sich der Arbeitsstil und nach einiger Zeit ändern sich auch die Einstellungen und Bewertungen. So merkt man zum Beispiel, dass die Bereitschaft wächst, wesentlich mehr Informationen zuzulassen, als man rational beherrschen kann.“ Das Einführen der Technologie sei noch der leichteste Teil. Man müsse einen Erlebnisraum für nicht hierarchische Kommunikation schaffen. Reden wir darüber in Live-Hangouts. Oder zumindest in irgeneiner Form der direkten Kommunikation.

Schnelle Krisen-PR mit Video-Antworten

Die Fastfood-Kette Burger King war im Mai 2014 nach einer Dokumentation bei RTL in der Sendung “Team Wallraff – Reporter Undercover” wegen bedenklichen unhygienischen und Mitarbeiter-unfreundlichen Zuständen beim Lizenznehmer Yi-Ko-Holding in die öffentliche Kritik geraten. Im Interview mit dem Shitstorm-Schnüffler Tim Ebner von der Agentur kpunktnull ist Burger King-Deutschlandchef Andreas Bork auf die Bedeutung von schnellen Reaktionen in sozialen Netzwerken eingegangen: Es seien für sein Unternehmen wichtige Interaktions-Plattformen, um sich direkt mit Gästen und Fans austauschen zu können. In guten wie in kritischen Zeiten. „Deswegen stand für uns außer Frage, dass wir auch transparent und offen die Krisensituation in den sozialen Netzwerken behandeln. Und wir bekommen wieder deutlich positive Reaktionen, gerade auf die Art und Wiese, wie wir mit der Krise umgegangen sind. Die Community glaubt uns, dass wir die Veränderungen aktiv angehen. Schließlich haben wir die Kritik ernst genommen und gehandelt.“ Als Beispiel nennt Bork die „Burgersprechstunde“ auf der eigenen Facebook-Fanpage. „Hier habe ich mich für mehr als zwei Stunden allen Fragen der Community gestellt und diese direkt mit personalisierten Videobotschaften beantwortet. Das war sicherlich eine ungewöhnliche Idee, gleichzeitig aber eine sehr gute Möglichkeit, in den Dialog zu gehen und direkt darauf einzugehen, was unsere Gäste und Fans bewegt. Eine Premiere und wirklich tolle Erfahrung.“ Live gestreamt wurde die Diskussion nicht, da Facebook diesen Dienst noch nicht anbietet, so die Antwort von Bork. Mit Hangout on Air hätte er es dennoch machen können, da man das Video auf der Facebook-Seite einbetten kann. Aber die Kurzbotschaften hatten in der Schnelligkeit schon Live-Charakter. Zudem überließ er die Krisenkommunikation nicht der Marketing-Abteilung, sondern machte das Unterfangen zur Chefsache. Sehr löblich. Es wäre für viele Führungskräfte eine heilsame Kur, dem Beispiel des Burger King-Chefs zu folgen und in die operativen Gefilde der eigenen Organisation einzutauchen. Unternehmen sollten viel häufiger den Versuch wagen, einfach nur mit ihren Kunden ins Gespräch zu kommen, sie von Produkten und Diensten zu überzeugen, Kritik nicht als feindlichen Angriff zu werten, Anregungen zur Verbesserung der Angebote zu nutzen und Servicewünsche direkt ohne Warteschleifen-Bürokratie zu erfüllen. In Crowdfunding-Kampagnen muss man um jeden Unterstützer kämpfen, man muss jeden Schritt erläutern, damit die Community nicht auseinanderfliegt.

Ich bin so schön

Es wäre ja schon mal ein großer Fortschritt, wenn Organisationen sich ihren Schönwetter-Gesprächsmodus abgewöhnen und normale Gespräche mit der Netzöffentlichkeit führen würden. Als weiteren Indikator könnte man die Aktivitäten der Unternehmen und sonstigen Organisationen in sozialen Medien und Blogs heranziehen. Wie oft sprechen denn Mitarbeiter und Vorstand mit Interessenten, Kunden und Kritikern? Wie oft werden Kundenanfragen auf Facebook und Co. beantwortet und wie zufrieden sind die Anfragenden? Wie dauerhaft wird denn über Themen gesprochen, die in Corporate Blogs präsentiert werden? Wie viel wird in externen Blogs über eine Marke geschrieben? Wer erhebt die Daten? Wird die Methodik ausreichend beschrieben? Wie in analogen Zeiten wird die Fliegenbein-Zählerei von jenen Agenturen durchgeführt, die auch für die Social-Web-Kampagnen verantwortlich sind. Dann könnte man auch die eigene Oma fragen, wie sie denn ihren Lieblingsenkel beurteilt. Für pragmatische und bodenständige Unternehmen bietet die direkte Kommunikation über Social-Web-Plattformen gigantische Möglichkeiten. Macht Expertenrunden via Hangout on Air mit Euren wichtigsten Kunden, setzt auf die Zusammenarbeit mit externen Fachleuten, macht virtuelle Stammtisch-Runden mit Bloggern, die fachlich zum eigenen Angebot passen. Kuratiert kritische Erfahrungen der Kundschaft und beantwortet die Serviceanfragen über YouTube-Videos. Macht die Super-User zur wichtigsten Anlaufstelle beim Abtesten von neuen Diensten sowie Produkten und mahnt sie nicht ab, wie es IKEA getan hat. Verschwendet kein Geld für x-beliebige iPad-Verlosungen, sondern bastelt endlich eine Kundenversteher-Meta-App, die als personalisierter Concierge funktioniert - anbieterübergreifend! Schickt auf Facebook & Co. keine Marketing-Jünglinge ins Feld, sondern den Chef des Unternehmens, um nicht mehr mit dem Rücken zum Kunden zu agieren. Schielt nicht auf die Zahlenspielchen der Excel-Exegeten, sondern erfreut Euch über jeden einzelnen Dialog, der Kunden zufriedenstellt. Nehmt Euch bewusst die großen Konzerne mit ihren Marketing-Truppen nicht zum Vorbild. Probiert einfach mal etwas anderes. Schmeißt die strategischen „Prozess-Empfehlungen“ der Consulting-Schmierlappen in den Müll und setzt auf Euren gesunden Menschenverstand. Bauchgefühl schlägt die Schein-Rationalität der Zahlendreher. Hier liegt die hohe Kunst, die der Bäckermeister intuitiv besser versteht als hoch dotierte Konzernchefs:

„Marketing zwar machen, aber unbewusst, aus der Intuition heraus; und dabei das eigene Handeln noch nicht einmal als Marketing zu verstehen“, schreibt „Wiwo“-Autor Thomas Koch, dessen Werbesprech-Kolumnen als Buch erschienen sind mit dem Titel „Werbung nervt“. Die oberste Führungsetage in großen Unternehmen gehört in die erste Reihe, gehört mit der Nase in die Belange des Kunden gedrückt, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nicht Monologe, die allein dem Ego des Top-Managements dienen, wären plötzlich Maß aller Dinge, sondern Dialoge mit Stammkunden, „mit den Begeisterten und den weniger Begeisterten. Gespräche. Respekt. Empathie“, so Koch. Etwas, was in Bäckereien, Kneipen oder Friseurläden jeden Tag praktiziert wird – ohne infantiles Facebook-Werbesprech.

Kleiner Auszug aus dem Kapitel “Vernetzte und offene Kommunikation im Kundenservice – Warum Unternehmen Netzwerkeffekte unterschätzen, die Kommunikation für Abwesende vergessen und die Weisheit der Kunden missachten” unseres Livestreaming-Buches, das am 4. September im Hanser Verlag erscheint. http://www.hanser-fachbuch.de/buch/Live+Streaming+mit+Hangout+On+Air/9783446440920
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Über Gunnar Sohn

Gunnar Sohn ist Freiberufler und u.a. Wirtschaftspublizist, Buchautor, Blogger, Medienberater, Moderator und Kolumnist.