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Alles Lockdown oder was? Führung zwischen New-Normal-Zeit und Kantinen-Meeting

Die letzten drei Monate haben uns geprägt und hoffentlich den einen oder anderen auch gestärkt.
Stefan Häseli | 30.09.2020
Homeoffice und Video-Meetings sind jetzt ein „Must-have“. Und "Remote-Leadership“ ist eine gewichtige Wortschöpfung in den Unternehmen. © Adobe Stock
 

Es war die Zeit der Distanz und der künstlich erzeugten Nähe. Social Distancing und Lockdown gaben den Rahmen vor, dass Begegnungen nur auf Distanz oder dann per virtuellen Konferenzen von statten gehen sollten. Zugegeben: Corona & Co. hat auch zu so mancher Absurdität in den Unternehmen und insbesondere in den Chefetagen geführt. Das erlebt auch Hannes. Der 49-jährige studierte Betriebswirt ist Produktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung eines internationalen Industriekonzerns. Er gewährt einen Einblick, was auf der Management-Etage so gedacht und getan wird. Übrigens: Ein Schmunzeln aufgrund dieser Business-Satire ist hier durchaus erlaubt…

Die Krise hat durchgeschlagen. Angeblich von China über Italien und „unerklärlicherweise“ dann doch bis hinter die Eingangstüren des Produktionsunternehmens, in der Hannes als Produktionsleiter tätig ist. Schon vieles mussten sie meistern: Wirtschaftsflaute, Streiks, explodierende Nachfrage, neuer Besitzer und nicht zuletzt das neue Parkplatzregime vor dem Hauptsitz waren allesamt Herausforderung, die mit besonnenem Vorgehen und klarer Strategie (so zumindest jeweils die offiziellen Wortlaute) gepackt wurden. Krisen sind Chancen, das posaunt auch heute jeder wieder ins soziale Mediennetz, ohne aber genau zu wissen, wie diese aussehen. 

Doch jeder Kalenderspruch taugt im Moment. Das ist auch bei Hannes so. Lockdown und Social-Distancing – immerhin gab’s wieder einmal zwei neue Vokabeln für adäquate Diskussionen. Ja, auch „home-office“ hört sich geschäftiger an, als das üblich „von-zu-Hause-aus-arbeiten“. Worte, die es in den Alltagsgebrauch schaffen und die wohl eines Tages dann auch als subtile Druckmittel herhalten können. „Entweder wir tun x oder wir lockdownen.“ Zwar fehlt das Verb noch, aber das kommt schon...
Immerhin: „Homeoffice“ ist zum allgegenwärtigen Begriff mutiert und wird nicht in Frage gestellt. Man prophezeite ihm sogar eine phänomenale und breit durchdrungene Zukunft. Nicht alle Anzeichen der allerletzten Wochen deuten allerdings darauf hin. Eigentlich schade, denn „Führen ins Home-office“ ist für Führungskräfte das, was für die digitale Verweigerer und Skeptiker der Sprung in die Web-Konferenz war: neues, kaltes Wasser! 

Sitzungen in der Kantine

An der heutigen Sitzung der Geschäftsleitung wurde notgedrungen auch rüber das „Lockdownen“ debattiert. Das war nicht ganz einfach. Es war wohl für einige Zeit die letzte, bei der man sich auch als physische Masse-Mensch zumindest in Sichtweise begegnete. Das Location-Setting (auch ein tolles, neues Wort) wurde berechnet: Fünf Personen im Sitzungszimmer, das wäre zu eng gewesen. Da die jetzt stillgelegte Betriebskantine frei war, wurde diese just in ein x-large-Meeting-Room umgewandelt. Die Akustik ist bekanntlich gut. Ein Glücksfall, dass man diesen zu hohen Lärmpegel nie angegangen ist. Irgendwo in einer Projektgruppe ist versandet, dem Einhalt zu gebieten. Die Menschen müssen schreien, wenn die Bude voll ist und man sich trotzdem verstehen soll. Aber jetzt hat dieses sakrale Hallen seine Vorteile. Denn die Bestuhlung wurde selbstverständlich nach den Social-Distance-Regeln konstruiert. Jeder hat zu jedem mindestens zwei Meter Abstand und man hört sich dennoch gut. 

Die Taskforce ist am forcen

An besagtem Meeting wurde nun das beschlossen, was eben auch europaweit breitflächig beschlossen wurde: Home-office und Video-Meetings sind jetzt ein „Must-have“. Die Evaluation, mit welchen konkreten Programmen nun von zu Hause aus gearbeitet wird, liegt zwar schon vier Jahre auf der To-Do-List der anstehenden Digitalisierungsaufgaben. Hat man verpasst, aber jetzt muss es schnell gehen. Eine Taskforce wurde gebildet, die jetzt die Geschäftsleitung berät und Entscheidungen vorbereitet. Der CEO meint, dass diese Taskforce sicherstelle, dass Beschlüsse jetzt schnell gefällt werden können. Nach gut einer Woche wurde dann klar, dass man sich auf die Microsoft-Lösung abstützt… In der Zwischenzeit wurde jetzt einfach ausprobiert. Jeder für sich selbst.

Hannes im Homeoffice

Hannes saß die letzten Tage ebenfalls in heimischen Gefilden und hat sich sein Homeoffice entsprechend eingerichtet. Damit er stimmungsmäßig nicht von den Blicken zu Küche, Nachbars Garten und Ferienbildern abgelenkt wird, ließ er sich noch drei Exponate aus der Produktion zu sich nach Hause zustellen. Nun ziert sein Schreibtisch eine eloxierte Schrauben-Mutter-Kombination und ein Achsgelenk für die Automobilindustrie. Als Schlüsselanhänger figuriert ein Parksensor, der ebenfalls aus „seiner“ Fabrik stammt. Denn: Feeling prägt das Denken, das Denken wiederum das Handeln. Die ersten Tage dienten ja vorzugweise dazu, sich IT-mäßig zu finden. Anschließend kam der Entscheid der Taskforce, das Programm „VideoCall-&-DataManagement-4-Industrial“ also das ViCaDaMi-System einzuführen. Kannte zwar vorher niemand, aber es sei das Beste. 

Auf der To-Do-Liste von vorgestern: Digitalisierung

Hannes Vermutung hat sich bestätigt: Man hat zwar das vorangehende Jahr als „Jahr der Digitalisierung“ proklamiert und allen Verkäufern ein Tablet mitgegeben, das sie anstelle des Ordners dem Kunden präsentieren. Das Motto war „wischen statt blättern“. Die Produktion hat neue Bildschirme erhalten und die Teamleiter ebenfalls ein Notebook für die Diensteinteilungen. Shopfloor war nicht mehr die weiße Tafel, sondern Bildschirm. Das war Digitalisierung. Dass aber die Menschen bereits bei der Installation eines Microsoft-Programms überfordert waren, trug seines dazu bei, dass die ersten Meetings vor allem von technischen Abstimmungen geprägt waren. 
Und ein jeder produziert dabei seine eigenen, typischen Sätze, die zunehmend salonfähig werden: „wir warten noch auf Peter“, „ich hab keinen Ton“, „meine Leitung ist schlecht“, „warum sehe ich dich nicht“ oder „das Programm hängt“ sind nur eine kleine Auswahl dessen. Die Zeiten sind jetzt wohl definitiv volatil, agil, verscrumt und digital. Wer hätte je gedacht, dass alles, von dem man sagte, dass es bereits da ist, wirklich einmal kommen könnte….

Remote-Leadership – unremoted

Jetzt mal im Ernst, so ganz ohne jeden satirischen Unterton und eher etwas nüchtern betrachtet: Für viele Menschen ist es gerade eine Phase des großen, persönlichen Fortschrittes. Die digitale Kompetenz hat exponentiell zugenommen. „Try and error“ ist auf einmal erlaubt. Auch derjenige, der mit so Sachen eigentlich nichts am Hut hat, ist schlichtweg dazu geziert, sich in Zoom, GoTo-Meeting, LifeSize, Skype, Teams, Webex zu schicken. 

Es musste einfach sein und hier haben vor allem auch Chefs und Chefinnen schnell gelernt. „Remote-Leadership“ ist seit ein paar Wochen auf google findbar und erste Wortschöpfungen, die jeglichem Sprachgefühl so etwas wie das „mit-dem-Fingernagel-rückwärts-über-die-Schiefertafel-schieben-Schmerzen“ verursachen, tauchen auf – und bleiben hoffentlich nicht. Denn „remote“ führen verlangt Kompetenzen, die auch dem „unremoten“ (eine weitere, furchtbare Wortkreatur) Führen gut anstünden. 

Führen aus und auf Distanz heißt: führen mit viel Vertrauen – aber auch klaren Auftragserteilungen und Zielsetzungen. Im Grunde muss der Prozess sich selbst kontrollieren, dann muss es der Chef nicht ständig als Controlling-Mechanismus tun. Remote-Leadership heißt auch, sich über Kommunikation klare Gedanken zu machen. Unter dem Türrahmen oder beim Kaffee ein „mach-doch-mal-einen-Vorschlag“ geht nicht. Klar strukturierte, top vorbereitete, virtuelle Meetings für Sachgeschäfte, vielleicht eine Office-WhatsApp-Gruppe für alles Zwischenmenschliche – auch vermeintlich unbedeutende Inhalte haben ihre Berechtigung, wenn auch nur als Klima-Hygiene-Faktor. Entscheidend ist nicht, ob man sich einfach ein paar schicke Tools beschaffen kann, sondern klar zu definieren, was, wie, wo, durch wen kommuniziert wird. Vermeintliche Errungenschaften, die, waren sie nicht vorher schon selbstverständlich, es durchaus in die nun verbreitet anzutreffende „New-Normal“-Zeit (übrigens auch das ein neues Corona-geprägtes Wort…) schaffen dürfen.