Der Tipping-Point und die Erfolgs-Psychologie dahinter
Im Jahr 2000 erschien erstmals der Bestseller „The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference“ von Malcom Gladwell. Dabei kann man diesen „Tipping Point“ als den einen magischen Moment bezeichnen, an dem eine Idee, ein Trend, ein soziales Verhalten oder auch eine Marke eine gewisse Schwelle überschreitet, um sich dann wie eine Art „Flächenbrand“ auszubreiten.
Über Nacht erfolgreich?
Dieses Phänomen zeigt sich speziell auch in der Markenwelt. So haben wir immer und immer wieder den Eindruck, dass Marken quasi übernacht erfolgreich wurden: Gestern noch unbekannt, heute in aller Munde. Oft werden für diese „Übernacht-Erfolge“ auch kreative Werbekampagnen verantwortlich gemacht. Nur wenn man dann die Geschichte dieser Erfolge im Detail studiert, ergibt sich in der Regel ein ganz anderes Erfolgsmuster.
Nehmen Sie etwa den iPod! Im Nachhinein betrachtet ergibt sich für die meisten folgendes Bild: Im Jahr 2001 präsentierte Steve Jobs diesen neuen MP3-Player mit Harddisc und dieser war nicht nur sofort erfolgreich, sondern machte auch Apple sofort zum gefeierten Markenstar. Nur wenn man sich die Zahlen ansieht, ergibt sich klar ein anderes Bild. So verkaufte man nach der Präsentation von Steve Jobs im Winterquartal 2001 gerade einmal 125.000 Stück. (Zum Vergleich: Das erste iPhone verkaufte sich am ersten Wochenende 270.000 Mal.) Im September 2003(!) wurde dann die erste Absatzmillion erreicht. 2004 wurden dann 4,4 Millionen iPods verkauft. 2005 kam dann der große Durchbruch und als 2007 das iPhone eingeführt wurde, hatte Apple bereits über 100 Millionen iPods verkauft.
Zufall versus Planung
Beruht aber dann Markenerfolg mehr auf dem Prinzip „Zufall“ als auf dem Prinzip „Planung“? Nein! Es bedeutet viel mehr, dass man bei der Planung das zentrale Element der Tipping-Point-Theorie versteht. Es geht nämlich darum, dass man frühzeitig die richtigen Multiplikatoren oder sogar nur den einen richtigen Multiplikator findet, um die Marke dann Schritt für Schritt zu entwickeln.
Spannend dazu aus Markensicht ist der Einstieg der Hafermilch-Kultmarke Oatly in den US-Markt im Jahr 2016. Damals wurde der amerikanische Markt für „Milchersatz“ von Mandel- und Sojamilchanbietern und Marken wie Silk, Blue Diamond, Califia Farms, Earth’s Own, Native Forrest oder Living Harvest dominiert.
Die Hauptzielgruppen waren die vegane Szene beziehungsweise alle, die an Milchintoleranz litten. In dieser Situation wäre es wahrscheinlich fatal gewesen, wenn Oatly versuchte hätte, als weiterer Anbieter auf breiter Front zu punkten. Stattdessen fokussierte Oatly alle Bemühungen auf kleine lokale Coffeeshops und in diesen auf die Barista als Empfehler. Dazu kreierte Oatly eine spezielle Barista-Mischung, die dicker war als andere pflanzliche Milch. Genau das machte Oatly zur besten milchfreien Option für die Baristas, die versuchten, coole Designs in ihre Milchkaffeekreationen zu zeichnen.
Dabei ließ Oatly zu Beginn bewusst große Ketten wie Starbucks links liegen. Der erste Coffeeshop, der diese Barista-Mischung von Oatly im Angebot hatte, war im Jahr 2016 Intelligentsia, eine Art „Boutique-Hipster-Coffeeshop“, der heute sechs Filialen in den USA hat. Ein Jahr später konnte man Oatly bereits in rund 650 Coffeeshops in den USA finden. 2018 betrug der Umsatz trotzdem nur „magere“ 6 Millionen US-Dollar, aber die Basis für den weiteren Erfolg war gelegt. Mittlerweile ist Oatly als Marke in den USA natürlich auch im Handel und bei Starbucks erhältlich. Zudem wurde die Marke um weitere Hafermilchprodukte erweitert. Am 20. April 2021 hieß es auf Fooddive.com, dass Oatly im Jahr 2020 global einen Umsatz von 421,4 Millionen US-Dollar erreicht hatte, davon ca. 100 Millionen US-Dollar in den USA, wobei der Handel bereits über 70 Prozent des Umsatzes ausmachte. So ist die Marke heute laut Medienberichten in rund 7.500 Einzelhandelsgeschäften und in rund 10.000 Coffeeshops der USA vertreten.
Fokus auf die richtigen Multiplikatoren
Wenn ich eines in mehr als 25 Jahren Beratungserfahrung gelernt habe, dann das, dass die meisten deshalb scheitern, weil man zu viel auf einmal will. Statt den eigenen Markt künstlich zu verengen, will man so schnell wie möglich alle und jeden (meist mit teurer Werbung) erreichen. Keine gute Idee! Viel besser: Man setzt speziell dann, wenn man ein neues Marken- und Marketingprogramm startet, auf eine mentale Teilmarktführerschaft in einem eingeengten Markt, der im Sinne der Tipping-Point-Theorie die perfekte Basis zur Multiplikation bietet. Dabei bieten sich – neben anderen – speziell die folgenden Verengungsansätze an:
Fokus auf die richtigen Medien
Fokus auf die richtigen Influencer
Fokus auf die richtigen Communities, Zielgruppen oder Branchen
Fokus auf die richtigen Regionen oder Städte
Fokus auf eine spezielle Problemstellung
Fokus auf die richtigen Vertriebspartner
Fokus auf die richtigen Veranstaltungen
Dazu noch ein extrem wichtiger Tipp: Wenn Sie von erfolgreichen Marken wirklich lernen wollen, sollten Sie unbedingt deren Erfolgsgeschichte studieren. Denn genau dort finden Sie in der Regel immer und immer wieder das Erfolgsmuster „vom Kleinen zum Großen“. Und genau dieses Erfolgsmuster sollten auch Sie nutzen, um dann einmal als großer Übernacht-Erfolg wahrgenommen zu werden.